LESEPROBE

RAIDASE BAND 1 - AIDEN & HAILEY

 

AIDEN

 

»Komm schon Daisy! Das kannst du mir nicht antun«, bettel ich und starte den Motor des alten Chevys erneut. Mehr als ein Stottern gibt die alte Dame nicht von sich. Fuck!
»Das meinst du doch nicht ernst. Nicht heute!«, wütend schlage ich auf das Armaturenbrett. Es hilft alles nichts. Nach geschlagenen zehn Minuten springt der Ofen immer noch nicht an. Shit! Ausgerechnet heute. Die höheren Mächte wollen offensichtlich nicht, dass ich jemals meinen Abschluss mache. Mit einem lauten Knall schlage ich die Tür zu. Was den Wagen verdächtig zum Wackeln bringt.
»Dir ist hoffentlich klar, dass ich dir das übel nehme Daisy!« Für gewöhnlich läuft der Wagen wie ein Uhrwerk. Nur jetzt nicht. Ich schultere meinen Rucksack und betrete das Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne, seit ich mit dem College angefangen habe. Eilig steige ich die Treppenstufen zum Keller hinab, um das alte Fahrrad zu holen.
Es ist inzwischen zwanzig nach acht. Niemals schaffe ich es noch pünktlich zum College. Oh Mann! Ich habe sicher fünf Jahre nicht mehr auf dem Drahtesel gesessen. Hoffentlich ist Luft auf den Reifen. Ich überprüfe kurz die Funktionstüchtigkeit, bevor ich mich auf den Sattel schwinge und kräftig in die Pedale trete.

Verdammt! Ich bin zehn Minuten zu spät. Etwas unschlüssig klopfe ich an die Tür des Seminarraumes. Professor Evans sieht mich mürrisch an, während ich nervös von einem Fuß auf den anderen trete.
»Mister West, Sie sind zu spät!«, mault er. Wenn es zwei Dinge gibt, die der Prof hasst, dann sind es Klugscheißer und Zuspätkommer.
»Entschuldigen Sie Professor Evans. Daisy hat heute Morgen gestreikt.« Fragend hebt er eine Augenbraue. Natürlich weiß er nicht, wer Daisy ist.
»Mein alter Chevy ist nicht angesprungen, deswegen musste ich das Rad nehmen.« Die Chancen, dass er mich in den Raum lässt, liegen gleich bei Null. In den letzten vier Jahren ist er nicht ein einziges Mal eingeknickt, wenn jemand zu spät dran gewesen ist.
»Mister West, wenn ich Sie jetzt die Prüfung schreiben lasse, muss ich anderen die gleichen Rechte einräumen. Sie verstehen sicher, dass ich das unmöglich tun kann.«
Natürlich verstehe ich es nicht! Das ist die letzte Prüfung, die ich brauche um meinen Abschluss zu bekommen. Zuspätkommen gleicht durchfallen und ich habe diese Prüfung schon mal vergeigt. Evans schüttelt leicht den Kopf. Das war's mit meinem Abschluss. Vier Jahre, einfach futsch.
»Ich verstehe.« Betteln wird mich nicht weiterbringen. Und so klein werde ich mich vor ihm nicht machen, dass ich es überhaupt versuche. Mit hängendem Kopf wende ich mich ab.
»Warten Sie Mister West!« Sofort halte ich in der Bewegung inne. Knickt er tatsächlich ein?
»Heute können Sie die Prüfung nicht mehr schreiben, aber vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass Sie sie zeitnah nachholen können. Kommen Sie doch bitte gegen Mittag in mein Büro und wir reden darüber.« Echt jetzt? Ich traue meinen Ohren nicht. Professor Evans lässt nie jemanden nachschreiben. Nie! Schnell stimme ich zu, bevor er sein Angebot wieder zurückzieht.
»Danke, Sir.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich habe eine Klausur zu beaufsichtigen.« Im nächsten Moment schließt er die Tür hinter sich und lässt mich allein im Gang zurück. Die Prüfung ist mit vier Stunden angesetzt. Mir bleibt also genug Zeit, um mir einen Plan zu überlegen, damit ich ihn davon überzeugen kann, mir eine Chance zu geben. Das muss doch machbar sein.

Ich nutze die Wartezeit, um im Coffeeshop den Dienstplan mit Amber abzusprechen. Seit letztem Sommer habe ich hier Massen an Kaffee und kiloweise Kuchen verkauft. Dabei kann ich beides nicht ausstehen.
»Gib mir so viele Schichten, wie du willst. Ich habe in nächster Zeit nichts Besseres vor.«
Wie lange ich den Job wohl noch behalten kann, wenn man mich vom College wirft? Amber lächelt mich auf ihre typische Art an. Von dem Desaster mit der verpassten Prüfung habe ich ihr nichts erzählt. Aber ich bin mir sicher, sie ahnt etwas.
»Das wird die Damenwelt freuen.« Bei ihrem Kommentar verdrehe ich die Augen. Amber ist der Ansicht, ich arbeite hier, um besser an Frauen heranzukommen. Klar bekomme ich hier nicht nur Trinkgeld, sondern auch einige Telefonnummern zugesteckt, aber dafür muss ich hier nicht arbeiten. Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie so von mir denkt. Sie weiß es ja nicht besser. Mir ist klar, dass ich ihren spitzen Bemerkungen aus dem Weg gehen könnte, wenn ich ihr einfach sage, dass ich tatsächlich das Geld brauche.
West ist ein Name, der nicht nur Türen öffnet, vor allem verbindet man mit ihm Geld. Geld, das allerdings nicht mir gehört, weil ich es nicht will. Nicht mehr. Amber wird mir nicht ohne weitere Erklärung glauben, also lasse ich sie denken, was immer sie will.
»Ich kann es kaum erwarten.« Amber schüttelt lachend den Kopf, richtet dann aber ihre Aufmerksamkeit auf ein paar Gäste, die am Tresen stehen. Bevor mich jemand in ein Gespräch verwickeln kann, mache ich mich vom Acker.

Meine nächste Schicht ist für morgen Früh geplant. Was bedeutet, dass ich mitten in der Nacht aufstehen muss, wenn ich pünktlich sein möchte. Daisy wird auch dann nicht besser gestimmt sein. Dieses Stottern klingt nach einer defekten Zündung. Kurzerhand ziehe ich mein Handy aus der Tasche und rufe John an, damit er mal nach der alten Dame sieht.
»Klar, ich schicke Matt gleich los. Wo steht denn der Chevy?« Auf John ist wie immer Verlass. Er hat vor Jahren eine Werkstatt eröffnet, die hauptsächlich Oldtimer restauriert. Daisy hat stolze 32 Jahre auf dem Buckel. Sie darf also durchaus, hin und wieder, zickig sein.
»Vor meiner Haustür. Danke Kumpel. Du hast was gut bei mir.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr, ich bin sieben Minuten zu früh.
»Kein Ding, aber es wird eine Weile dauern. Wir haben derzeit ein paar Projekte, die unbedingt fertig werden müssen.« Damit kann ich leben, schließlich repariert er den Wagen für lau. Ich bezahle nur die Ersatzteile und die kosten schon ein kleines Vermögen. Meine Ersparnisse werden somit Daisy zum Opfer fallen.

Ich verabschiede mich, sobald ich den Professor auf dem Flur entdecke. Er kramt einen schweren Schlüsselbund aus der abgenutzten Ledertasche und hantiert an der massiven Holztür, zu seinem Büro, herum. Mit einem leisen Quietschen öffnet sie sich.
»Wie ich sehe, haben Sie es pünktlich geschafft.« Ich verzichte darauf hinzuweisen, dass mittags keine genaue zeitliche Angabe ist, sondern eine Zeitspanne umfasst. Klugscheißen ist jetzt wirklich nicht angebracht.
 »Ja, Sir.« Er deutet mir ihm zu folgen und ich nehme auf einem der Stühle vor dem massiven Schreibtisch platz. Er selbst bleibt an dem großen Aktenschrank stehen. Mit Schwung zieht er eine Schublade mit der Aufschrift 'W' heraus. Einen Augenblick später hält er meine Collegeakte in der Hand.
»Also gut Mister West, dann schauen wir mal, was ich für Sie tun kann.« Er schlägt die Akte auf, blättert darin herum und klappt sie wieder zu. Ich würde ebenfalls gerne mal einen Blick hineinwerfen, da steht bestimmt so einiges drin.
»Mmh. Ihre Noten sind gut. Allerdings sind Sie bereits im letzten Semester durch diese Prüfung gefallen. Darf ich fragen, wie es dazu gekommen ist?«, fragt er höflich. Sein Blick ist starr auf mich gerichtet. Kurz überlege ich, ihm eine Ausrede aufzutischen. Sollte er es durchschauen, habe ich mir jegliche Chance verbaut. Lügen hilft in der Regel niemanden, dass weiß ich besser als jeder andere. Ich entscheide mich für die Wahrheit.
»Ich hatte im letzten Jahr einige familiäre Probleme. Ich muss gestehen, dass ich nicht ganz bei der Sache war.« Professor Evans reibt sich nachdenklich das Kinn.
»Und jetzt sind Sie wieder bei der Sache, um Ihren Abschluss zu machen?« Er lehnt sich abwartend zurück. Wäre ich hier, wenn es nicht so ist?
»Ja Sir. Es lag nur an meinem Wagen, dass ich zu spät war«, bestätige ich und hoffe, dass er tatsächlich ein Auge zudrückt.
»Gut, ich werde Sie die Prüfung nach den Winterferien schreiben lassen. Unter einer Bedingung ...« Evans mustert mich prüfend, als wäge er ab, ob es wirklich eine gute Idee ist. Ich würde alles tun, wenn er mich nur nachschreiben lässt. Ich brauche diesen Abschluss. Versagen ist keine Option. Er dreht den Bilderrahmen, der auf dem Schreibtisch steht so herum, dass ich das Foto darin sehen kann. Eine hübsche blonde Frau lächelt glücklich in die Kamera. Professor Evans lenkt mein Interesse auf die dritte Person.
»Meine Tochter Hailey. Sie ist eine der Erstsemester in diesem Jahr.« Der Professor hält mir das gerahmte Familienfoto entgegen, ich nehme es in die Hand und betrachte das Mädchen darauf. Ich habe keine Ahnung, worauf er hinaus möchte. Wird das hier eine Art Smalltalk? Was soll ich denn jetzt bitte sagen?
»Sie sieht nett aus.« Ist das Einzige, was mir einfällt. Ich bin ein Idiot! Sie sieht nett aus? Mehr hast du nicht zu bieten, West? Nett, ist sicher nicht das, was Evans von mir hören will. Sie wirkt etwas blass, aber auch das ist nicht gerade ein Kompliment. Ihre blonden Haare sind kurzgeschnitten, was sie wie einen Jungen aussehen lässt. Das Kleid, das sie trägt, schmeichelt auch nicht gerade ihrer Figur. Sie entspricht nicht meinem Typ, auch wenn ihr Gesicht durchaus hübsch ist. Ich bevorzuge weiblichere Frauen. Hailey wirkt eher burschikos.
»Sie sind beliebt am College.« Die Aussage verwirrt mich etwas. Worauf will er hinaus? Erst zeigt er mir Familienfotos und jetzt interessiert er sich für meinen Beliebtheitsgrad?
»Ich denke schon, aber ich verstehe die Frage nicht? Was hat das mit der Prüfung zu tun?« Es wird Zeit, dass er langsam zum Punkt kommt. Nicht das ich etwas anderes vorhabe, aber Geduld zählt nicht gerade zu meinen Stärken.
»Hailey ist unser einziges Kind. Sie hat ein wenig Probleme damit, Anschluss zu finden. Ich dachte, Sie könnten ihr etwas unter die Arme greifen, damit sie hier einen Einstieg findet.« Was? Soll ich etwa seine Tochter daten? Das ist der Deal?
»Ich soll mit ihr ausgehen?« Sicherheitshalber frage ich nach, nur damit wir uns richtig verstehen.
»Sie sollen nicht mit ihr ausgehen. Sie sollen ihr ein Freund sein. Sorgen Sie dafür, dass Hailey nicht über die Stränge schlägt oder an die falschen Leute gerät. Passen Sie ein wenig auf Hailey auf, mehr nicht.« Kurz gesagt, ich soll den Babysitter spielen. Das klingt nach einem Kinderspiel. Also, wo ist der Haken bei der Sache?
»Okay, das bekomme ich hin.« Mir ist zwar nicht klar, warum ihm das so wichtig ist, aber es geht mich auch nichts an. Das hier ist das College! Es gehört dazu, seine Grenzen auszutesten. Wobei, wenn ich an mein erstes Jahr denke ... Lieber nicht. Dieser Deal ist zu einfach, um wahr zu sein, aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich meinen Abschluss will. Ich spiele die Anstandsdame für seine Göre und im Gegenzug lässt Evans mich nachschreiben. Ich hoffe, dass es wirklich so einfach ist, wie es klingt.
»Gut, dann sind wir uns einig.« Der Professor steht auf. Was wohl bedeutet, dass wir fertig sind. Ich bedanke mich und unterdrücke das breite Grinsen, das versucht sich in mein Gesicht zu schleichen.
»Mister West! Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass niemand von unserer Abmachung erfährt, auch Hailey nicht. Morgen Nachmittag findet die Einführung der Erstsemester statt. Wie jedes Jahr bekommen die Abgänger einen Neuling zugewiesen. Ich sorge dafür, dass man Ihnen Hailey zuteilt.« Zur Bestätigung nicke ich. Mir soll es recht sein. Eilig verschwinde ich nach draußen in den Flur. Ich atme zweimal tief durch. Das ist doch völlig verrückt.
*
Heute ist Erstsemestertag und es ist die Hölle los. Auf dem Campus wimmelt es nur so von Menschen. Der Coffeeshop ist völlig überfüllt und platzt aus allen Nähten. Geschätzte hundert Bestellungen habe ich bereits entgegengenommen und abkassiert.
In drei Stunden werde ich zwischen einem Haufen Studenten der Abschlussjahrgänge stehen und darauf warten, dass mir die Tochter des Professors zugewiesen wird. Dass die Erstsemester einen Paten erhalten ist an diesem College Tradition. John ist vor vier Jahren mein Pate gewesen und heute zählt er zu meinen besten Freunden. Grundsätzlich ist das Ganze keine große Sache. Man führt sein Anhängsel über den Campus und bietet Hilfestellungen an, falls etwas unklar ist. Das war's dann auch schon. Nach einer Woche hat man in der Regel seine Schuldigkeit getan. Anschließend grüßt man sich gelegentlich, wenn man sich auf dem Campus begegnet.
Die meisten Erstsemester wollen keinen Babysitter an ihrer Seite, sie finden selbst Anschluss. Bei Hailey wird es nicht anders sein. Ich bin schneller raus aus der Nummer, als ich bis drei zählen kann.

»Was bekommst du?« Den Becher mit der Aufschrift, 'FÜR MEGAN' reiche ich an eine Brünette weiter. Ich sehe auf, als niemand auf meine Frage antwortet. Einen kurzen Augenblick starre ich die Blondine vor mir erschrocken an. Die Haare fallen ihr auf die Schultern und ihr Gesicht wirkt etwas runder, aber sie ist es. Hailey. Und sie ist verdammt hübsch. Shit! Dieser Look steht ihr um einiges besser. Dass sie jetzt hier ist, bringt meinen Plan zwar durcheinander, aber man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Ich knipse mein Sonntagslächeln an und lasse meinen Charme spielen und schon bin ich im Rennen.
»Hey Sonnenschein, bestellst du auch etwas, oder hältst du nur den Verkehr auf?« Ich deute auf die Schlange hinter ihr. Sie sieht sich kurz um und wird leicht rot. Was tatsächlich irgendwie süß ist. Süß? Seit wann finde ich Frauen denn süß?
»Oh, entschuldige bitte. Ich glaube, ich nehme einen Cappuccino?« Hailey blickt betreten zur Seite, was mir einen guten Blick auf ihr Profil bietet. Sie sieht aus, als hätte sie jemand im Gegenlicht gemalt.
»Glaubst du oder weißt du, dass du einen Cappuccino möchtest?« Hailey‘s Wangen färben sich erneut rot. Sie ignoriert jedoch meinen Versuch, sie zu necken.
»Einen Cappuccino bitte«, bestellt sie schließlich. Auf den Pappbecher schreibe ich, 'SUNNY' und male daneben eine Sonne.
»Einen Cappuccino für Sunny.« Ich reiche den Becher an Amber weiter, die an der Kaffeemaschine steht und bereits auf die Bestellung wartet. Ich zwinkere Hailey kurz zu, bevor sie weiter geht, um ihr Getränk in Empfang zu nehmen.
Das läuft doch schon ganz gut. Als sie den Coffeeshop verlässt, sieht sie zu mir rüber. Unsere Blicke treffen sich und halten einen Augenblick lang einander fest. Der Moment ist vorbei als Hailey, ohne mein Lächeln zu erwidern durch die Tür verschwindet. Sie traut mir nicht über den Weg. Das läuft überhaupt nicht gut.


Hailey

Der Cappuccino schmeckt schrecklich bitter und ich kippe ihn in die nächsten Büsche. Tee ist mir um einiges lieber. Den Becher behalte ich allerdings und werde ihn später als Stifthalter benutzen oder als Andenken an den heißen Typen aus dem Coffeeshop. Es sollte wirklich verboten sein so auszusehen. Der Kerl gehört ganz klar in die Kategorie, Finger weg! Vor so einem Mann warnt dich deine Mom und du fällst trotzdem auf ihn herein. Aiden. Der Name klingt schon wie die reinste Versuchung. Warum muss man ihm auch noch ein Metallschild an die Brust pinnen, damit man weiß wie er heißt. Da entwickelt man doch automatisch Fantasien.

Ein großer Aufsteller mit der Aufschrift, 'Einführungsveranstaltung Fakultät 3' weist mir den Weg. Ich folge der Beschilderung und schaffe es pünktlich. Wow. Das sind echt eine Menge Menschen, die sich für Literatur interessieren. Die Leute vor der Tür sind nur ein Bruchteil von denen, die sich bereits im Gebäude tummeln. Der Saal ist völlig überfüllt und nicht jeder hat einen Sitzplatz ergattert, mich inbegriffen.
Ich stehe zwischen einem pummeligen Typen in einem karierten Hemd und einer Gruppe Studentinnen, die ständig kichern. Am Pult hat sich eine kleine Gruppe versammelt, die Professoren vermute ich, bin mir aber nicht ganz sicher. Ich stöhne genervt. Durch das Gekicher bekomme ich kaum etwas von der Veranstaltung mit.
Meine Füße schmerzen bereits vom Stehen und ich bin froh, als es endlich vorbei ist. Oh Mann, das College wird schwieriger, als ich gedacht habe. Die kurze Einführungsveranstaltung hat lauter Fragen in meinen Kopf gebrannt, auf die ich wohl vorerst keine Antworten bekommen werde.

Ich bin völlig erledigt, als ich endlich mein Zimmer im Wohnheim erreiche. Den Becher mit der Aufschrift, 'SUNNY' und der kleinen Sonne spüle ich aus, bevor ich ihn auf den Schreibtisch stelle. Ich räume gerade die letzten Sachen in den Schrank, als jemand die Tür zum Zimmer aufreißt. Erschrocken fahre ich herum.
Ein Mädchen mit wirren blassroten Haaren und rundlichen Gesicht stürmt herein. Sie bleibt abrupt stehen, als sie mich entdeckt.
»Oh hey! Sorry, ich bin Amber. Du bist dann wohl meine Mitbewohnerin«, sagt sie freundlich. Ich erkenne sie, sie ist das Mädchen aus dem Coffeeshop. Amber hat mir den Becher gegeben, der jetzt auf meinem Schreibtisch steht. Sofort sehe ich Aiden’s Gesicht vor mir und würde mir am liebsten selbst vor die Stirn hauen. Ich sollte mir den Typen aus dem Kopf schlagen, bevor er sich dort einnistet. Er ist sowas von unerreichbar für mich, auf offener Straße würde er mich nicht mal ansehen. Ich spiele bei Weitem nicht in seiner Liga. Es ist sein Job freundlich zu lächeln. Verdammt dieses Lächeln.
»Huhu, alles okay mit dir?« Eine Hand wedelt vor meinem Gesicht herum, schnell trete ich einen Schritt zurück.
»Ähm ja klar. Ich bin Hailey«, stottere ich unbeholfen und hoffe, dass sie mich nicht für völlig bescheuert hält.
»Cool. Wir werden eine Menge Spaß haben«, flötet sie und verschwindet im nächsten Augenblick im Badezimmer. Ich frage mich, ob sie und Aiden Freunde sind oder nur zusammen arbeiten. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Verdammt, ich komme zu spät.
 
Eigentlich würde ich gerne auf diesen Quatsch verzichten, aber Dad besteht darauf. Das mit dem Paten ist eine alberne Tradition, die allerdings freiwillig genutzt werden kann. Meinen Aufenthalt am College hat Dad an Bedingungen geknüpft. Er besteht auf den Paten und ich auf das Zimmer im Wohnheim. Er besteht auf dieses College und ich auf die Wahl des Hauptfaches. Die Liste ist lang. Aber ich bin hier und nur darauf kommt es an.
Im Campuspark hat sich eine überschaubare Menge an Leuten versammelt. Ich halte mich etwas abseits, damit ich alles im Blick habe.
»Hailey Evans, Aiden West.« Verdammt! Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Lass es wenigstens nicht DEN Aiden sein. Zögerlich hebe ich die Hand, denn ich werde mich sicher nicht durch die Menge nach vorne drängen. Gespannt beobachte ich, wie sich jemand zu mir durchschlägt. Ich schließe die Augen und atme kurz durch.
Im nächsten Moment steht ER auch schon vor mir. Der Typ aus dem Coffeeshop. Natürlich, warum sollte es auch anders sein. Er grinst mich frech an. Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt.
»So sieht man sich wieder, Sunny.« Das Grinsen in seinem Gesicht wird noch breiter. Es überrascht mich, dass er sich an mich erinnert und irgendwie schmeichelt es mir.
»Ähm ja, scheint so.« Aiden steht so nah vor mir, dass er mich nervös macht. Wie gut er riecht. Es sollte verboten sein so eine Wirkung auf Frauen zu haben. Das ist einfach nicht fair.
Er streckt mir seine Hand entgegen. Ich ignoriere sie absichtlich, weil ich wahrscheinlich in Ohnmacht falle, wenn er mich berührt.
»Ich bin Aiden, dein Guide für die ersten Tage hier am College.« Dieses Lächeln. Ich versuche, sein Lächeln auszublenden. Es ist auch nicht fair, dass ich ausgerechnet ihn zugewiesen bekomme. Warum kann es nicht jemand sein, der etwas weniger sexy ist?
»Ich bin Hailey«, stelle ich mich vor, damit er mich nicht mehr Sunny nennt. So ein Spitzname setzt eine persönliche Verbindung voraus, die wir nicht haben und so soll es auch bleiben.
Gemeinsam sehen wir schweigend zu, wie weitere Paare zusammengestellt werden. Und jetzt? Was genau passiert jetzt, schleicht man gemeinsam über den Campus? Tauscht man Telefonnummern für den Notfall? Ich bezweifle, dass er mir einfach so seine Nummer gibt. Ich will sie auch gar nicht haben.
Allmählich verteilen sich die Pärchen auf dem Campus, bis nur noch wenige übrig sind. Ich schaue zu Aiden, der mich neugierig mustert, als wüsste er nicht recht, was er mit mir anfangen soll.
»Okay Sunny, worauf hast du Lust?« Genervt verdrehe ich die Augen, weil er mich schon wieder Sunny nennt.
»Hailey! Mein Name ist Hailey!« Aiden sieht mich etwas verdutzt an und zieht die Stirn leicht kraus.
»Ich weiß. Los komm, ich führ dich herum.« Ich folge ihm über den Campus, während er die einzelnen Gebäude erklärt, werfe ich Aiden immer wieder kurze Blicke zu, die ihm hoffentlich nicht auffallen. Seine Bewegungen sind geschmeidig und selbstbewusst. Die Jeans sitzt etwas zu tief auf seinen schmalen Hüften, was unglaublich sexy ist. Das grüne T-Shirt, das er vorhin im Coffeeshop trug, hat er gegen ein schwarzes, mit einem Aufdruck von Elvis getauscht. Sein haselnussbraunes Haar ist lässig zu einem Knoten zusammengebunden.
Einige Studentinnen schauen Aiden nach. Was ihm entweder nicht auffällt oder ihn schlichtweg nicht interessiert. Ob er eine Freundin hat? Bestimmt! So ein Typ ist sicher nicht Single. Wahrscheinlich sieht sie aus, wie eins dieser It Girls von Instagram. Oder noch schlimmer, sie ist eine davon. Plötzlich wechselt er die Richtung, ich laufe direkt in ihn hinein und komme ins Straucheln. Aiden packt mich blitzschnell an den Oberarmen und stellt mich wieder auf die Füße, bevor ich zu Boden stürze.
»Alles klar bei dir?«, grinst er amüsiert. Ist alles klar bei mir? Mein Herz rast und meine Knie sind etwas wackelig. Was aber nicht an dem beinahe Sturz liegt, sondern an ihm. Aiden ist mir viel zu nah, rasch trete ich von ihm zurück.
»Ja klar. Ich glaube, ich habe alles Wichtige gesehen. Danke, dass du mich herumgeführt hast, aber ich würde jetzt gerne zurück ins Wohnheim gehen.« Ich habe eindeutig zu viel Aiden inhaliert, mein Verstand ist bereits völlig vernebelt. Er ist umwerfend und ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nur zu gut weiß. Ein Grund mehr, um zu verschwinden.
»Okay, dann bringe ich dich zum Mädchenwohnheim«, sagt er völlig selbstverständlich. Ohne auf eine Antwort zu warten, läuft er los und ich eile ihm hinterher.
Es dämmert bereits, als wir am Wohnheim ankommen. Wieder schweigen wir einander an, was seltsam ist, da ich Aiden für gesprächiger halte. Was mich erneut zu dem Punkt bringt, dass es wohl an mir liegt. Wenn man es realistisch betrachtet, bin ich nicht gerade ein Smalltalk Profi. In meinem Kopf habe ich Aiden tausend Fragen gestellt, aber keine davon ausgesprochen.
»Da wären wir, Sunny.« Ich weiß, dass er mich anlächelt, auch wenn ich ihn nicht ansehe. Schon wieder steht er viel zu nah vor mir. Macht er das eigentlich absichtlich? Das hier ist wie beim ersten Date, wenn der Junge das Mädchen nach Hause bringt und nicht weiß, ob er sie küssen oder ihr zum Abschied die Hand reichen soll.
Na ja, Aiden weiß sicher, was er mit einem Mädchen anstellen muss. Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, wie es sich anfühlt, wenn er mein Gesicht in seine Hände nimmt und mir immer näher kommt. Ich spüre, wie meine Wangen rot anlaufen, schnell schüttel ich den Gedanken ab. Niemals wird es dazu kommen. So jemand wie Aiden ist das Letzte, was ich in meinem Leben gebrauchen kann.
»Also ich geh dann mal rein«, unterbreche ich die Stille und deute auf die Glastür hinter mir.
»Man sieht sich, Sunny«, sagt er und läuft quer über den Rasen zurück.
»Mein Name ist Hailey!«, rufe ich ihm nach. Aiden lacht laut und verschwindet um die Ecke. Er wird mich niemals Hailey nennen.

»Wow, du siehst völlig fertig aus«, begrüßt mich Amber. Sie liegt auf ihrem Bett und blättert in einem Buch. Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen. Ich nehme das Kissen, drücke es mir fest auf das Gesicht und schreie hinein.
»Okay, was ist los?« Amber zieht mir vorsichtig das Kissen weg. Nach Aiden ist sie der zweite Mensch, der mich hier überhaupt wahrnimmt. Was soll sie auch anderes tun, wir teilen uns schließlich ein Zimmer.
»Wie werde ich meinen Paten wieder los?«, frage ich zögerlich, Amber lacht.
»Das ist es? Deswegen bist du so durch den Wind? Keine Angst, egal welcher Volltrottel es ist, spätestens Ende der Woche grüßt er dich nicht mal mehr auf dem Campus. Die Abschlussjahrgänge interessieren sich nicht für die Erstsemester. Diese Patenschaft ist eine Tradition, die inzwischen nicht mehr so eng gesehen wird. Kopf hoch, das wird schon.« Es ist nett von ihr, dass sie versucht mich aufzubauen. Aber leider ist mein Pate nicht irgendein Volltrottel. Mit Idioten kann ich umgehen. Mit Typen, denen ich die Kleider vom Leib reißen will nicht.
»Ich hoffe, du hast recht. Mehr als eine Woche halte ich nicht durch.« Amber erzählt von Calvin, der ihr Pate gewesen ist, als sie ein Erstsemester war. Calvin war leidenschaftlicher Briefmarkensammler und redete anscheinend wie ein Wasserfall. Amber hatte ihm sehr schnell zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht braucht. Hoffnung macht sich in mir breit. Aiden wird diese Patensache vielleicht gar nicht so ernst nehmen, er hat sicher wichtigere Dinge zu erledigen. Mit seinem It Girl zum Beispiel. Ahrrr, das ist wirklich zum Kotzen.
»Also, wer ist es? Ich helfe dir gern, ihn loszuwerden.« Ich starre an die Decke und atme tief durch. Amber kennt Aiden und ich hoffe, dass sie es nicht falsch versteht. Ich will ihn nicht loswerden, weil er ein Idiot ist, sondern weil ich Angst habe, dass er mir den Kopf verdreht.
»Aiden West«, antworte ich und schiele vorsichtig zu Amber, die mich komisch ansieht.
»Hast du gerade ernsthaft Aiden West gesagt?« Ich nicke und starre wieder zur Decke hoch, die dringend einen frischen Anstrich nötig hat.
»Sorry, aber dann verstehe ich dein Problem nicht. Aiden ist heiß. Ich kenne Mädchen, die alles tun würden damit er mal in ihre Richtung sieht.« Sie bestätigt damit meinen Verdacht. Aiden ist ein Badboy und sie steht wohl ebenfalls auf ihn.
»Ich will aber nicht, dass er in meine Richtung sieht«, Amber grinst mich wissend an.
»Wenn das so ist, kann ich dich beruhigen. Aiden West guckt nicht lange in dieselbe Richtung. Er ist wie ein Wildpferd, hübsch anzusehen, aber einfangen lässt er sich nicht. Morgen weiß er wahrscheinlich nicht mal mehr wie du heißt«, sagt sie völlig gleichgültig. Meine Brust zieht sich auf eine merkwürdige Art zusammen. Etwas an ihren Worten gefällt mir nicht, dabei habe ich gehofft, dass sie genau das sagt.
*
Ich bin extra früh aufgestanden, um in der Cafeteria zu frühstücken. Amber schläft noch tief und fest, leise schleiche ich mich aus dem Zimmer. Die Cafeteria liegt auf der anderen Seite vom Campus, in der Nähe des Coffeeshops in dem Aiden arbeitet. Verdammt! Schon wieder schweifen meine Gedanken in diese Richtung ab.
 Ich senke den Blick auf das Tablett vor mir, darauf steht eine Schüssel Müsli mit Trockenobst und eine Tasse Kräutertee. Ich ziehe das kleine Buch aus meiner Tasche und schlage es in der Mitte auf. Hier stehen all die Dinge, die ich in der Zeit auf dem College erleben möchte, ich muss sie nur in Angriff nehmen. Ich hake frühstücken in der Cafeteria ab. Stolz klappe ich es zu und schiebe es zur Seite. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich bin tatsächlich hier.
 »Ist hier noch frei?« Die raue Stimme verpasst mir sofort eine Gänsehaut. So schnell werde ich Aiden West wohl doch nicht los. Ich sehe zu ihm auf. Stahlgraue Augen mustern mich neugierig. Innerlich seufze ich laut auf. Natürlich sieht er um sieben Uhr morgens schon umwerfend aus. Ich habe lediglich geduscht, frische Sachen angezogen und die Zähne geputzt. Was ich jetzt wirklich bereue, aber ich habe nicht erwartet so früh am Morgen schon jemanden über den Weg zu laufen und schon gar nicht ihm. Die Vorlesungen beginnen erst in zwei Stunden.
Entgegen meiner Annahme ist die Cafeteria gut gefüllt und es gibt kaum noch freie Tische. Zwischen den ganzen Leuten falle ich eigentlich nicht auf. Also warum zum Teufel steht Aiden West ausgerechnet an meinem Tisch?

 

 

Aiden

Die Kleine ist wirklich sonderbar. Sie hat den ganzen Nachmittag nicht mehr als drei Worte gesagt. Dabei sieht sie aus, wie jemand der viel zu erzählen hat. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber wenn sie nicht aus ihrem Schneckenhaus heraus kommt, wird sie hier nie Anschluss finden. Da hilft auch mein Beliebtheitsstatus nichts. Ich verstehe nicht, warum es Evans so wichtig ist, dass ich ein Auge auf sie habe. Bei ihrem Aussehen wird sie nicht lange allein bleiben und sie scheint auch nicht der Typ für dumme Ideen zu sein.
Das mit dem Kinderspiel kann ich mir abschminken. Hailey benimmt sich wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht. Irgendwer wird Dornröschen wachküssen müssen. Stellt sich nur die Frage, wer? Mir ist nicht entgangen, wie sich ihre Wangen rot färben, wenn sie mich ansieht, aber das wäre wirklich eine verdammt dumme Idee. Hailey ist hübsch, aber ich stehe auf Frauen, die sich nehmen was sie wollen und danach schnell wieder verschwinden. Diese zerbrechliche Art, wie Hailey sie ausstrahlt, ist nichts für mich. Damit kann ich nicht umgehen. Sobald eine Frau heult, bin ich raus.
*
Ich habe mal wieder die Frühschicht im Coffeeshop, weil niemand sie gerne macht und ich gerade jede Menge Zeit habe.
»Hey, West! Das Radfahren auf dem Campusgelände ist verboten, also steig gefälligst ab!«, brüllt Larry, einer der Ordner. In den letzten Jahren hat er mich so oft bei Regelverstößen erwischt, dass mit Sicherheit ein Foto von mir im Wachhäuschen hängt. Gehorsam steige ich vom Rad ab und hebe zum Gruß die Hand. Okay, ich strecke ihm den Mittelfinger entgegen. Larry flucht laut vor sich hin, als Antwort lache ich.
Als ich an der Cafeteria vorbeilaufe, blicke ich durch die große Glasfront. Eine überschaubare Menge an Studenten frühstückt bereits, für gewöhnlich ist hier deutlich mehr los. Es gibt tatsächlich noch freie Tische. Hailey sitzt an einem in der hintersten Ecke. Ich lehne mein Fahrrad an die Steinmauer und betrete das Gebäude.
»Ist hier noch frei?«, frage ich zuckersüß. Aus müden blauen Augen sieht Hailey zu mir auf. Ihr Gesicht wirkt blass und ungeschminkt, ist deswegen aber nicht weniger hübsch. Neben dem Tablett liegt ein kleines buntes Buch. Ich tippe auf ein Notizbuch oder vielleicht ihr Tagebuch. Ihr Müsli sieht noch unberührt aus. Sofort knurrt mein Magen, da ich in der Eile nicht gefrühstückt habe.
Hailey mustert mich misstrauisch, als sie nickt, setze ich mich auf den Stuhl, der ihr gegenüber steht.
»Wie war deine erste Nacht?«
»Gut«, antwortet sie knapp. Okay, wir machen da weiter, wo wir gestern aufgehört haben. Ich rede und mit etwas Glück bekomme ich eine Antwort.
»Wie ist deine Mitbewohnerin? Kommt ihr klar?« Was zur Hölle tue ich hier eigentlich? Ich klinge wie ein Volltrottel.
»Sie ist nett.« Kurz, knapp, Hailey. Langsam bekomme ich den Eindruck, dass sie entweder nicht viel von Smalltalk hält oder von mir.
»Morgenmuffel?«, frage ich und versuche es mit einem Lächeln. Normalerweise plappern Frauen unaufhörlich und senden unverkennbare Signale aus, aber Hailey hat offensichtlich keinen Bock auf mich und mein Gequatsche. Das ist Neuland für mich und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Es macht mich nervös und unsicher, dass ich nicht weiß, was sie von mir hält.
»Mmh«, brummt sie. Tja, Pech für sie denn so schnell werde ich nicht lockerlassen. Ich brauche den Abschluss und dieses Mädchen wird mir sicher keinen Strich durch die Rechnung machen.
»Gib mir mal dein Handy«, bitte ich sie. Hailey ignoriert erneut meine ausgestreckte Hand. Sie misstraut mir. Was grundsätzlich nicht verkehrt ist, aber mich im Augenblick nicht weiterbringt.
»Warum?« Was glaubt sie denn? Das ich sie verarschen will? Ist es so abwegig, dass ich ihre Nummer haben will? Ja, ist es. Genau das scheint ihr auch bewusst zu sein. Bin ich wirklich so ein oberflächlicher Arsch, dass man es mir an der Nasenspitze ansieht?
»Ich bin dein Pate, schon vergessen?« Hailey zögert einen Moment, bevor sie nach ihrer Tasche greift. Bei der Gelegenheit verstaut sie das kleine Buch.
Sie legt ihr Handy auf den Tisch und schiebt es zu mir rüber. Ich öffne ihre Kontakte und scrolle kurz durch. Nur eine Handvoll Telefonnummern befinden sich in der Liste. Hat sie keine Freunde? Es brennt mir auf der Zunge sie danach zu fragen.
Bevor sie stutzig wird, tippe ich die Nummer ein. Nur um sie zu ärgern, setze ich ein Herz vor meinen Namen und markiere mich als Favoriten, ich führe nun ihre Kontaktliste an. Kurz rufe ich mich selbst von Hailey’s Handy aus an. Eins weiß ich bereits über Hailey, sie wird mich nicht anrufen. Das Vibrieren in meiner Hosentasche signalisiert den eingehenden Anruf. Ich lege ihr Handy zurück auf den Tisch und stehe auf.
»Ich muss jetzt los. Der Coffeeshop wartet auf meine Dienste. Ruf mich an, wenn du Lust auf einen Cappuccino oder so hast«, schlage ich ihr vor. Ich sehe auf sie herab, ihr Blick ist starr auf das Tablett geheftet. Oh Mann, wie soll ich sie im Auge behalten, wenn sie meine Gesellschaft so ablehnt. Warum hat Evans ausgerechnet mich für den Job ausgesucht? Aber so einfach gebe ich nicht auf, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Ich habe nicht vor, dieses College ohne einen Abschluss zu verlassen.
»Okay.« Hailey zieht die Schüssel mit dem Müsli zu sich heran und schiebt sich das eklige Zeug in den Mund. Okay? Das war’s, mehr nicht? Kein, hab ein schönen Tag oder bis später? Wenigstens ein Lächeln sollte doch drin sein. Was verdammt ist eigentlich ihr Problem? Ich reiße mir den Arsch auf, um nett zu sein, und sie sagt, okay? Es kotzt mich an, dass sie mir so die kalte Schulter zeigt und ich nicht weiß warum.
»Hab einen schönen Tag, Hailey«, zische ich. Sie soll ruhig wissen, dass ich angepisst bin. Mit schnellen Schritten gehe ich zum Ausgang, als ich über meine Schulter sehe, starrt Hailey immer noch auf ihr Müsli. Mist! Ich brauche dringend einen Plan.

»Du bist zu spät!« Amber sieht aus, als wäre sie selbst gerade erst aus dem Bett gehüpft.
»Sorry, ich musste mein Patenkind erst noch an die Hand nehmen.« Das ist zwar nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht wirklich gelogen. Amber reicht mir einen heißen Kakao und betrachtet mich eingängig, bevor sie grinst. Was weiß sie, was ich nicht weiß?
»Wer hätte gedacht, dass ein Aiden West diese Aufgabe so ernst nimmt. Hast du ihr auch beim Einschlafen geholfen?« Amber provoziert und stichelt, wo sie nur kann. Ich bin mir sicher, dass sie mich mag. Zwar nicht auf die Weise, wie es Frauen für gewöhnlich tun, sondern mehr wie einen großen Bruder den man versucht in den Wahnsinn zu treiben. In diesem Job ist sie verdammt gut. Einzig und allein mein Rechtsbewusstsein hält mich davon ab ihr manchmal den Hals umzudrehen.
Auf eine verquere Art ist Amber für mich das, was ich als eine Freundin bezeichnen würde. Ich habe mehr als einmal in ihrem Wohnheimzimmer übernachtet, wenn ich mitten in der Nacht aus einem der Mädchenzimmer geschlichen bin und nicht mehr in der Lage war nach Hause zu fahren. Sie zieht mich regelmäßig damit auf, dass sich die Frauen irgendwann zusammenschließen werden und mich gemeinsam nackt an den Fahnenmast binden. Hin und wieder kommt es tatsächlich vor, dass nach einer Verbindungsparty jemand dort auf diese Art seinen Rausch ausschläft. Ich hoffe, dass dieses Schicksal mich nie ereilt.
»Neidisch, Amber Schätzchen?« Vielsagend wackel ich mit den Augenbrauen und grinse sie dabei an. Sie macht ein Würgegeräusch und verdreht die Augen.
»Du wirst es kaum glauben West, aber es gibt Frauen, die dir nicht sabbernd nachlaufen. Und jetzt zieh dich um! Die Schlange wird nicht kürzer.« Lachend verschwinde ich im hinteren Bereich, um mich umzuziehen.

Der erste Ansturm ist mit Beginn der Vorlesungen vorbei, was uns eine Pause verschafft. Ich sitze an einem der Tische und trinke meinen Kakao, der inzwischen kalt ist. Mein Handy liegt auf der Tischplatte, ich starre es an und warte darauf das es klingelt. Aber nix. Kein Anruf, keine Nachricht, gar nichts. Ich weiß nicht, was ich erwarte, aber es wurmt mich, dass es so vor sich hin schweigt.
»Deine Angebetete lässt dich wohl im Regen stehen?« Amber setzt sich zu mir und grinst zufrieden.
»Was? Wie kommst du auf den Bullshit?« Ich habe wirklich keine Lust auf dieses Gespräch. Für Amber wäre es das gefundene Fressen, wenn ich ihr von Hailey erzähle.
»Du schaust ständig auf dein Handy und ziehst dann dieses Gesicht.« Um das Ganze zu verdeutlichen, zieht sie eine Grimasse.
»So ein Quatsch, ich warte darauf, dass sich die Werkstatt meldet, damit ich Daisy abholen kann«, rede ich mich heraus. Amber grinst, sie hat mich durchschaut. Sie ist der Teufel mit Engelsgesicht und roten Haaren. Ihr kann man einfach nichts vormachen, ich habe es mehr als einmal versucht.
»Weißt du Aiden, vielleicht solltest du sie anrufen und nicht darauf warten, dass sie es tut.« Was wird das hier? Ist sie jetzt Experte für mein Liebesleben. Verdammt, ich habe nicht mal eins. Hailey ist mein Ticket zum Abschluss und keine Tussi, die ich ins Bett bekommen will. Ich werde ihr ganz sicher nicht nachlaufen.
Ich habe heute Morgen den ersten Schritt gemacht, jetzt ist sie an der Reihe. Nervös trommel ich mit den Fingern auf der Tischplatte herum und starre weitere zehn Minuten auf das Handy, das gnadenlos vor sich hin schweigt. So ein Mist, sie hat überhaupt keinen Grund sich zu melden. Resigniert suche ich Hailey's Nummer in meinen Kontakten und schreibe ein einfaches und unverfängliches, >HEY<.
Noch schlimmer als darauf zu warten das sie anruft, ist auf eine Antwort zu hoffen. Ich hasse es, dass von diesem Mädchen meine Zukunft abhängt.
»Arbeitest du heute auch oder bemitleidest du dich den ganzen Tag selbst. Ich will das nur wissen, damit ich weiß, was ich auf deinen Abrechnungsschein schreiben soll«, ruft Amber. Sie ist gerade dabei den zweiten Ansturm zu bewältigen. Ich verstaue mein Handy in der Hosentasche und eile ihr zur Hilfe. Das Letzte was ich jetzt gebrauchen kann, ist auch noch meinen Job zu verlieren.

Meine Schicht ist seit einer Stunde vorbei, aber in der Erstsemester Woche lässt der Ansturm kaum nach. Überstunden werden zwar bezahlt, aber ich muss hier dringend raus. Ambers bohrender Blick geht mir gehörig auf die Nerven. Was ich jetzt will, ist ein Bier und eine Runde auf meiner alten Gibson.
»Amber, kommst du allein klar? Ich muss los!« Sie setzt zu einer Antwort an, überlegt es sich dann aber anders. Sie will mich um jeden Preis durchschauen. Seit wann interessiert sie sich auf diese Art für mich? Wir sind Freunde, aber wir hinterfragen einander nie. Wir nehmen die Dinge wie sie sind und damit kommen wir beide sehr gut klar. Das habe ich jedenfalls immer angenommen. Amber redet genauso ungern über sich, wie ich über mich und nur deshalb funktioniert das zwischen uns. Doch jetzt sieht sie mich plötzlich anders an.
»Okay, hau ab West! Und vergiss nicht, du hast die Nachmittagsschicht!« Amber durchbohrt mich regelrecht mit ihrem fragenden Blick. Schnell verschwinde ich im hinteren Bereich, der nur für das Personal zugänglich ist.
Ich falle fast über eine Brünette, als ich das Hinterzimmer verlasse. Etwas unsanft rempel ich sie an und vor Schreck lässt sie den Kaffeebecher fallen. Der Inhalt, der stark nach Pumpkin Spice Latte aussieht, hinterlässt einen Fleck auf den Fliesen. Was für eine Sauerei, jemand wird das aufwischen müssen, aber bestimmt nicht ich.
»Woooh sorry, ich hab dich nicht gesehen«, entschuldige ich mich.
»Das habe ich gemerkt!«, zischt sie und sieht auf. Ihre Augen werden plötzlich groß, als sie mich mustert. Sie lächelt mich auf diese Art und Weise an, wie Frauen es tun, wenn sie dir an die Wäsche wollen. Sie ist sexy. Ihre braunen Haare enden genau auf ihren Brüsten. Was sicher beabsichtigt ist, wenn man dem Ausschnitt den sie präsentiert glauben schenken kann. Sie weiß genau, wie sie ihre Reize einsetzen muss. Nicht auf die billige Art, sondern auf eine Art die Fantasien ankurbelt.
»Darf ich dir einen Neuen ausgeben?«, lächle ich sie an. Ich bin durchaus bereit, sie zu entschädigen. Auf welche Art auch immer.
»Wenn du deine Nummer auf den Becher schreibst?« Ich grinse sie breit an. Ich wusste, dass sie das sagen wird. Das ist der häufigste Spruch, den ich höre, wenn ich hinterm Tresen stehe. Für gewöhnlich springe ich nicht darauf an, aber ich brauche etwas Ablenkung. Hailey hat mir mächtig die Stimmung versaut.
Die Brünette verzieht ihren kirschroten Mund zu einem Lächeln. Ein Lächeln, das ihre Absichten mehr als deutlich macht. Mein Unterbewusstsein stellt sich bereits vor, was sie damit alles anstellen kann.
»Was hältst du davon, wenn wir woanders einen Kaffee trinken?«, schlage ich vor. Sie grinst und ich streiche ihr eine lose Strähne hinters Ohr. Sie springt sofort darauf an. War ja klar.
»Amber, kannst du das hier aufwischen?«, rufe ich ihr zu und führe die Brünette zur Tür hinaus. Ich kann sie vor sich hin schimpfen hören. Zieh dich warm an, West! Damit wird Amber mich nicht so einfach davonkommen lassen.
Wie sich herausstellt, hat die Brünette ein Zimmer im Wohnheim, das kommt mir gelegen, denn ich habe keine Lust Smalltalk zu führen, nur weil wir gemeinsam in einem Auto festhängen. Sie drückt ihre kirschroten Lippen in dem Moment auf meinen Mund, als die Tür ins Schloss fällt. Gut, ich habe nichts dagegen, wenn sie die Zügel in die Hand nimmt.
*
Um zwei Uhr morgens schleiche ich mich aus ihrem Zimmer. Ich habe weder vor neben ihr aufzuwachen, noch eine zweite Runde einzulegen. Man muss die Dinge nicht unnötig kompliziert machen. Aus zweimal wird dreimal und eh man sich versieht, findet man sich in einer Beziehung wieder, in der man nicht sein will.
Ich habe kein Interesse daran eine Frau kennenzulernen, die mit mir ins Bett steigt, bevor sie mir überhaupt ihren Namen sagt. So ist es immer. Sie sehen mich an und stellen sich vor, wie ich sie vögel. Es ist nicht so, dass ich keinen Spaß daran habe. Im Gegenteil, aber ich habe bereits alles von ihr bekommen. Warum soll ich sie dann noch daten?
Als ich die zweite Etage erreiche ist es totenstill. Es ist Freitagabend und die meisten sind ausgeflogen und genießen die Erstsemesterpartys auf dem Campus. Ich bin völlig erledigt. Die Kleine hat Gras da gehabt. Mein letzter Joint ist Jahre her und dieser ist eine denkbar schlechte Idee gewesen. Ich bin sowas von breit, niemals schaffe ich es mit dem Fahrrad nach Hause.
Vor der Zimmernummer 21 bleibe ich stehen. Amber hat immer noch diese hässliche rosa Fußmatte. Ich greife nach dem Schlüssel, den sie darunter deponiert hat, falls sie ihren mal wieder vergisst. Amber verbringt die Wochenenden meist bei Jase, also wird sie nicht da sein. Das Zimmer hat sie schon seit dem ersten Semester für sich allein. Was wirklich seine Vorteile hat.
Ich sehe mich um, um sicherzugehen, dass mich niemand sieht. Der Flur ist wie ausgestorben. Ich schließe die Tür auf und stolpere im dunkeln zu dem Bett von Amber. Etwas unbeholfen schäle ich mich aus den Klamotten und werfe sie auf den Boden. Die Augen fallen mir sofort zu, ich bin völlig fertig. Die Kleine hat mich regelrecht ausgesaugt.

 

 

Hailey

Mindestens eine halbe Stunde starre ich schon auf dieses eine Wort auf dem Display, >HEY<. Ich habe nicht vor darauf zu antworten, aber ich frage mich, was er von mir will. Diese Gute-Pate-Nummer nehme ich ihm nicht ab, er ist sicher nicht der Typ für soziales Engagement.
Die Krönung ist allerdings, dass er seinen Namen mit einem Herzchen versehen hat. Ich will gar nicht wissen, wie viele Frauen ihn ebenfalls so abgespeichert haben. Ich lösche es und verstaue mein Handy in der Ledertasche, die meine Eltern mir zum Studienbeginn geschenkt haben. Sie entspricht nicht gerade dem aktuellen Trend, aber sie ist praktisch. Sie hat viele kleine Fächer, um nützliche Sachen wie Stifte, Locher oder Tacker zu verstauen. Ich mag praktische Dinge.

Das Zimmer ist leer, als ich es betrete. Ich genieße die Ruhe und sortiere meine Bücher in das Regal neben dem Bett.
»Hey!« Amber stolpert durch die Tür und sieht mich ungläubig an.
»Was machst du da? Es ist Freitag Abend. Du solltest ausgehen und Spaß haben. Überall auf dem Campus sind Erstsemesterpartys.« Partys. Das ist auch so etwas, womit ich nichts anfangen kann. Laute Musik und betrunkene Menschen, die komische Spielchen machen, darauf kann ich gut und gerne verzichten.
»Keine Lust. Ich bin völlig platt.« Das ist nicht gelogen, ich fühle mich wirklich erschöpft. Erschöpft von Aiden West, weil er mich in meinen Gedanken verfolgt und erschöpft von den vielen Eindrücken die sich mir hier bieten. Amber plumpst neben mir auf das Bett.
»Verstehe. In meiner ersten Woche war ich auch völlig überfordert. Glaub mir, es wird besser«, sagt sie und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. Sie springt auf und kramt eine Reisetasche unter ihrem Bett hervor.
 »Du verreist?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber froh oder enttäuscht bin.
»Ja ich fahre übers Wochenende zu meinen Eltern, meine Mom hat Geburtstag. Ich habe montags keine Vorlesungen, also werde ich nicht vor dem Abend zurück sein.« Jetzt bin ich doch enttäuscht. Amber sieht mich besorgt an.
»Wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, geh raus. Auf dem Campus ist wirklich jede Menge los für Erstsemester. Misch dich unter die Leute oder ruf West an. Ich werde dich nicht verraten, wenn du Männerbesuch hast.« Sie hebt vielsagend die Augenbraue, sofort verfärbt sich mein Gesicht. Mist! Amber lacht und packt ein paar Kleidungsstücke ein.
»Oh Mann Hailey, du bist auf dem College, also genieß es!« Sie schultert ihre Tasche und wirft mir eine Kusshand zum Abschied zu. Die Tür fällt ins Schloss und plötzlich ist es still. Diese Stille ist mir allzu vertraut. Ich schlage eins meiner neuen Bücher auf, die ich extra für solche Momente gekauft habe.
Der Trubel vom Campus dringt durch das offene Fenster. Ich stehe auf und sehe hinaus. In der Dunkelheit kann ich nicht viel erkennen, lediglich mein Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe. Für einen Moment starre ich die junge Frau an, die mir entgegenblickt. Ich habe erwartet, dass sie glücklich aussieht, stattdessen wirkt sie verloren. Tränen schießen mir in die Augen. Was mache ich hier überhaupt? Mit einem lauten Knall lasse ich das schwere Rollo am Fenster herunter.

Immer wieder fallen mir die Augen zu. Ich lege das Buch auf den Nachttisch und gehe ins Badezimmer, um mich für die Nacht fertig zu machen. Das Bad ist nicht besonders groß, aber jeder hat seinen eigenen kleinen Schrank. Ich putze mir die Zähne und schlüpfe in meinen Schlafanzug. Kurz nach Mitternacht knipse ich die Nachttischlampe aus.

*
Das helle Tageslicht wird durch das Rollo abgeschwächt. Ich quäle mich aus dem Bett und bekomme kaum die Augen auf, während ich ins Bad schlurfe. Gähnend stelle ich mich unter die Dusche. Das warme Wasser macht mich zwar nicht munter, aber es entspannt meine steifen Glieder. Ich muss wie ein Stein geschlafen haben, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum mein Körper sich anfühlt wie ein Betonklotz.
Nur mit einem Handtuch bekleidet verlasse ich das Bad und bleibe abrupt im Türrahmen stehen. Kurz glaube ich zu träumen, da mitten im Zimmer ein Kerl steht und sich gerade die Boxershorts anzieht. Er bietet mir die beste Sicht auf seinen nackten Hintern.
Wie zum Teufel ist er hier reingekommen und was mich noch mehr interessiert, was macht er überhaupt hier? Amber's Bett ist zerwühlt und ihre Decke liegt zusammengeschoben am Fußende. Oh mein Gott, hat er etwa hier geschlafen? Keine drei Meter von mir entfernt. Seine dunklen Haare fallen ihm auf die Schultern.
»Was tust du hier?«, frage ich ihn. Aus irgendeinem Grund habe ich keine Angst vor dem Mann in meinem Zimmer. Was ich gerade geboten bekomme, ist wirklich sehr ansehnlich. Ertappt hält er kurz in der Bewegung inne.
»Shit! Keine Panik ich bin sofort weg«, sagt er hastig. Sobald er seine Boxershorts hochgezogen hat, dreht er sich zu mir um.
Echt jetzt? Das ist nicht wahr! Aiden West steht in meinem Zimmer und trägt nur seine Unterwäsche. Kann es eigentlich noch schlimmer werden? Dieses Bild wird sich für immer in meinen Kopf brennen. Verdammt! Anfangs habe ich ihn für schmal und drahtig gehalten, aber ich nehme alles zurück. Dieser Kerl ist einfach perfekt. Sein Körper ist nicht übertrieben muskulös, aber er treibt definitiv regelmäßig Sport. Es ist wirklich nicht fair so auszusehen. Jemand sollte ihn wegsperren.
Wir starren einander an. Aiden scheint es nicht ansatzweise peinlich zu sein, dass er nur in Boxershorts bekleidet vor mir steht und ich ihn so offensichtlich anstarre. Als er mich angrinst werden meine Knie weich. Shit! Dieser Typ ist die reinste Versuchung und das ist wirklich gefährlich.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Amber inzwischen eine Mitbewohnerin hat. Sie hat gar nichts von dir erzählt.« Er und Amber? Ich bin verwirrt. Hat sie nicht gesagt, ich soll ihn anrufen und sie würde mich nicht verraten, wenn ich Männerbesuch habe? Oh! Sie hat damit nicht Aiden gemeint, sondern irgendeinen Kerl.
»Ähm ja, sieht ganz so aus.« Verdammt! Ich sollte wirklich mal etwas anderes zu ihm sagen. Doch mein Gehirn setzt regelmäßig aus, sobald er in meiner nähe ist. Sicher hält er mich für eine Idiotin, die ihn hemmungslos anstarrt und keinen vernünftigen Satz rausbekommt.
»Tja Sunny, das Schicksal meint es wohl gut mit uns. So wie es aussieht, werden wir einander so schnell nicht los«, er grinst schief. Anstatt sich weiter anzuziehen und zu verschwinden, kommt er auf mich zu. Was meint er damit? Haben er und Amber wirklich was am Laufen? Ich starre ihn immer noch an, aber ich bin einfach nicht in der Lage meinen Blick von seiner nackten Haut abzuwenden. Seine Muskeln tanzen, als er mir immer näher kommt. Viel zu nah!
Seine nackte Brust schwebt unmittelbar vor meinem Gesicht. Ich sehe dabei zu, wie sie sich hebt und senkt. Aiden riecht nach Sex und frisch gewaschener Bettwäsche. Eine Mischung, die in mir Sehnsüchte erweckt, die wirklich eine dumme Idee sind. Meine Atmung ist schwerfällig und meine Haut glüht. Aiden kann meine Reaktion auf seine Nähe unmöglich entgehen. Ich hasse es, dass er mich so offensichtlich anmacht und er das genau weiß.
Aiden umfasst sanft mein Kinn. Seine Berührung trifft mich völlig unvorbereitet und ich taumel leicht nach vorn. Meine Hände landen auf seiner nackten Brust und suchen nach Halt. Regungslos liegen meine Finger auf Aiden's Körper. Ich berühre seine weiche und warme Haut, unter der sich deutlich angespannte Muskeln abzeichnen. Sein Griff wird fester, nicht so das es schmerzt, aber durchaus fest genug, damit ich ihm nicht entkommen kann. Sein Herz schlägt schnell und kräftig gegen meine flache Hand. Aiden hebt mein Kinn leicht an, aber ich weigere mich ihn anzusehen und ihn endgültig gewinnen zu lassen.
»Hailey sieh mich an.« Nein! Wie sind wir bloß in diese Situation geraten? Warum ist er nicht einfach gegangen?
»Bitte«, fleht er leise und mein Widerstand bröckelt. Langsam hebe ich den Blick, unsicher ob ich Aiden standhalten kann. In seinen stahlgrauen Augen tobt ein regelrechter Sturm. Für ihn ist das hier genauso verwirrend wie für mich. Er kann mich nicht wirklich wollen, aber ich will ihn. Wäre er nicht schon so gut wie nackt, würde ich ihm spätestens jetzt die Kleider vom Leib reißen und das weiß er.
Aiden beugt sich mir entgegen, seine Lippen streichen sanft über meine Wange. Er verpasst mir eine Gänsehaut bis in die Zehenspitzen und ich schnappe nach Luft.
»Hailey, hör zu. Es gibt Regeln. Wir können das hier jetzt tun und ich schwöre dir, du siehst mich danach nie wieder«, haucht er gegen meine völlig überhitzte Haut. Ohne mich zu berühren setzt er mich in Flammen. Ist es nicht das, was ich will? Aiden ist wirklich keine gute Idee, aber kann man ihm überhaupt widerstehen?
»Oder wir lassen es und das hier ist nie passiert. Du hast es in der Hand, es ist deine Entscheidung.« Seine Worte klingen wie ein Flehen, aber ich bin mir nicht sicher, um was genau er mich in diesem Moment anfleht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihm gewachsen bin, wenn ich mich auf ihn einlasse.
Regungslos wartet er auf meine Antwort. Etwas in seinen Augen sagt, dass er sich in dieser Situation genauso unwohl fühlt wie ich und trotzdem nicht in der Lage ist zurückzuweichen. Ich will das hier, aber es fühlt sich nicht richtig an.
»Hailey! Was willst du?«, fragt er und lehnt seine Stirn gegen meine. Das hier ist falsch. Ich lasse die Hände langsam sinken.
»Ich will dich nicht«, flüstere ich. Oh Gott! Ich werde noch anfangen zu heulen, wenn es so weiter geht. Habe ich ihm gerade wirklich einen Korb gegeben? Ich bin wirklich verrückt. Aiden ist der heißeste Typ, der mir je begegnet ist und ich weise ihn ab. Dafür komme ich in die Hölle.
»Gott sei Dank. Ich habe gehofft, dass du das sagst.« Wie bitte? Was will er damit sagen? Ist er froh, dass er jetzt nicht mit mir schlafen muss. Was sollte das denn zwischen uns werden, eine Mitleidsnummer? Ich stoße Aiden von mir.
»Was ist das hier? Ein beschissenes Spiel! Du schleichst dich in mein Zimmer, machst mich an, um mir dann zu sagen, dass ich deiner nicht würdig bin? Hättest du dich geopfert, wenn ich es gewollt hätte? Oder hättest du nur gelacht und gesagt, träum weiter Sunny. Ich bin Aiden West.« Tränen schießen mir in die Augen. Er hat mich gedemütigt und ich habe es zugelassen. Wie dumm kann man sein, ich weiß es doch eigentlich besser und doch schmerzt die Wahrheit.
»Das ist es, was du von mir denkst?« Ich sehe Aiden nicht an. Das ist ihm Bestätigung genug. Was soll ich auch anderes denken?
»Du hältst mich also wirklich für so ein Arschloch«, sagt er beleidigt und zieht den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Seine Bewegungen sind hektisch und er ist aufgebracht. Na toll, jetzt bin ich die Böse und er spielt die beleidigte Leberwurst. Der spinnt doch!
»Eins kannst du mir glauben. Ich spiele immer mit offenen Karten. Ich verspreche keiner Frau etwas. Sie wissen immer, worauf sie sich einlassen. Ich spiele keine Spielchen. Nie!«
Aiden schlüpft in seine Converse, bereit sich aus dem Staub zu machen. Plötzlich fühle ich mich schuldig. Er sieht aus, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst, und zwar ohne jeglichen Grund. Tue ich ihm wirklich unrecht?
»Aiden ich ...« Abwehrend hebt er die Hand.
»Lass gut sein Hailey, ich habe es verstanden.« Ich möchte nicht das er geht, nicht so. Ich packe Aiden am Arm und halte ihn fest.
»Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen dürfen«, entschuldige ich mich und wage einen letzten Versuch um ihn zu besänftigen. Er wirbelt herum und drängt mich in einer schnellen Bewegung mit dem Rücken gegen die Wand. Aiden hat mich regelrecht festgenagelt, sein Körper ist an meinen gepresst. Meine Haut beginnt erneut zu kribbeln, schon wieder ist er mir viel zu nah.
»Weißt du was Hailey, du hast Recht. Ich kann jede haben, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich auch jede nehme. Du weißt gar nichts über mich, erlaube dir also nicht über mich zu urteilen.« Aiden gibt mich abrupt frei und stößt sich von der Wand ab, bevor ich überhaupt antworten kann.
»Aiden ...« Ein Blick von ihm reicht und ich schlucke die Worte herunter.
»Vergiss es Hailey!« Die Enttäuschung ist ihm deutlich anzumerken. Er hat mehr von mir erwartet. Jetzt fühle ich mich richtig beschissen. Ich habe Aiden in eine Schublade gesteckt, ohne ihn wirklich zu kennen. Ich sehe ihm nach, als er im Gang verschwindet und um die nächste Ecke biegt. Verdammt, was für ein Chaos!