Leseprobe

RAIDASE BAND 2 - JAMES & GRACE

 

James

Klopf, klopf.
»Ja, bitte«, ich sehe von den Unterlagen auf, die auf meinem Schreibtisch liegen. Taylor steht im Türrahmen und sieht mich entschuldigend an, weil sie mich stört, obwohl ich sie darum gebeten habe es nicht zu tun.
»Entschuldigen Sie, hier ist jemand für Sie. Er sagt, er sei ihr Onkel und das er Sie sprechen müsse.« Ich lehne mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und stoße genervt die Luft aus. Ed schafft es, immer in den schlechtesten Momenten aufzutauchen.
»Schon okay Taylor, schicken Sie ihn rein.« Sie lächelt freundlich und verschwindet zurück in das Vorzimmer. Zwei Minuten später tritt Ed durch die Tür. Er lächelt übertrieben freundlich und mir schwant Böses. Das letzte Mal hat mir dieses Lächeln eine Band und eine riesige Tragödie verschafft.
»James, mein Junge«, begrüßt er mich und kommt zielstrebig auf mich zu. Für sein Alter sieht er noch ziemlich gut aus und unsere Ähnlichkeit ist ebenfalls nicht zu übersehen. Ich hasse es, wenn er mich »mein Junge« nennt, als wäre ich zwölf und nicht einer der erfolgreichsten Männer der Musikindustrie.
»Ed, was verschafft mir die Ehre?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich wirklich darüber freue ihn zu sehen. Ohne auf meine Aufforderung zu warten, nimmt er mir gegenüber platz.
»Darf ich meinem Neffen keinen Besuch abstatten?«, fragt er. Ich nehme es ihm nicht ab, dass er ohne Hintergedanken in mein Büro schneit. Allein deswegen schon nicht, weil ich am Wochenende bei ihm zum Essen eingeladen bin. Also, was ist so wichtig, dass es nicht bis dahin warten kann? Ich ziehe misstrauisch eine Augenbraue hoch. Ich schätze diesen Mann, aber er ist ein miserabler Lügner.
»Okay, du hast mich erwischt. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, rückt er endlich mit der Sprache heraus. Ich stöhne frustriert auf, das habe ich geahnt.
»Noch einen? Ich dachte, wir sind quitt?«, antworte ich und frage mich, ob wir das wirklich jemals sein werden. Ja, ich stehe tief in seiner Schuld, aber ich habe mich bereits mehr als einmal bei ihm freigekauft.
»Die Jungs von RAIDASE waren ein Tipp, kein Gefallen.« Er ist nervös, egal was es ist, ich werde nicht begeistert sein.
»Derzeit kostet mich dein Tipp eine Menge Geld«, entgegne ich und grinse Ed schief an. Niemand hat das kommen sehen, aber es kostet mich ein Vermögen, dass die Band im Moment auf Eis liegt.
»Die Jungs raufen sich schon wieder zusammen, gib ihnen noch etwas Zeit«, nimmt er die Band in Schutz. Was wird das hier? Gnade vor Recht? Diese Denkweise hat mich nicht erfolgreich gemacht.
»Ich finde, fünf Monate sind eine lange Zeit in diesem Business. Es wird jetzt schon schwer das Ganze wieder in Gang zu bekommen. Die abgesagte Tour sorgt immer noch dafür, dass mir Klageschriften ins Haus flattern.« Ich habe durchaus Mitleid mit der Band, aber es ist und bleibt ein Geschäft. Und zwar ein hartes und es ist gnadenlos, wenn man den Anschluss verpasst.
»Du machst das schon James. Versprich mir nur, dass du sie nicht aufgibst«, bittet er mich. Das kann ich ihm nicht versprechen, weil ich in erster Linie Geschäftsmann bin, der vielen Leuten einen monatlichen Scheck ausstellen muss.
»Gut, also warum bist du hier?«, frage ich um das Gespräch zu beschleunigen, damit ich das Meeting in zwanzig Minuten nicht verpasse.
»Ja, also ...  du erinnerst dich sicher an Grace oder?«, sagt er und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Wie könnte ich Grace, Ed’s Stieftochter aus zweiter Ehe, je vergessen.
»Was ist mit ihr?«, frage ich nach. Eine Mischung aus Besorgnis und Übelkeit macht sich in mir breit. Ich habe Grace seit zehn Jahren nicht gesehen, aber ich habe sie nie vergessen. Ihr cognacfarbenes Haar, das nach Vanille riecht, die olivfarbenen Augen und ihre runden Wangen. Grace, die über alles lacht und weint, weil ich ihr den Cupcake geklaut habe. Bei der Erinnerung an sie muss ich schmunzeln, und doch läuft es mir eiskalt den Rücken runter.
»Sie kommt in die Stadt«, teilt er mit. Ich sehe ihn fragend an. Was hat das Ganze mit mir zu tun?
»Also, nicht nur auf Besuch. Sie möchte für eine Weile bleiben. Sie hat noch keine Wohnung und du weißt ja, wie schwer es ist, in der Stadt bezahlbaren Wohnraum zu finden.« Nein, ich habe keine Ahnung wie die Mietpreise sind. Ich kaufe die Immobilien, in denen ich wohne, und miete sie nicht. Ich bin selbst erst vor ein paar Monaten hergezogen, als die Geschichte mit RAIDASE passiert ist und ich keinem meiner Angestellten diese Sache übergeben wollte. Einen Großteil des Büros habe ich ebenfalls hierher verlegt.
»Ich bin kein Immobilienbüro, das weißt du hoffentlich.« Ed schnaubt leise. Er kann es nicht leiden, wenn ich ihn aufziehe.
»Aber du hast jede Menge Platz.« Ich weiß nicht, was mir diese Feststellung sagen soll. Meine Wohnung liegt genau über den Büroräumen und bietet deutlich mehr Komfort als ich benötige, aber ... Oh, auf gar keinen Fall.
»Vergiss es«, sage ich mit festen Ton. Er kann nicht wirklich glauben, dass ich Grace bei mir aufnehme.
»Ich würde Grace ja bei uns wohnen lassen, aber du kennst Brittany. Es ist nur vorübergehend, bis sie etwas Eigenes gefunden hat.« Brittany, Ehefrau Nummer drei, ist zwanzig Jahre jünger als Ed und eine richtige Naturgewalt. Sie und Grace, das wäre sicher interessant.
»Ich bezahle ihr ein Hotel«, biete ich an. Ich kann Grace wirklich nicht in meiner Nähe gebrauchen.
»Ich habe dich besser erzogen James! Wir sind eine Familie, da hält man zusammen«, mahnt er mich. Ich stoße genervt die Luft aus.
»Sie ist nicht mal deine Tochter«, protestiere ich. Ed baut sich zu seiner vollen Größe auf. Was bei knapp zwei Metern beachtlich ist.
»Du bist auch nicht mein Sohn und doch habe ich dich immer so behandelt.« Der Vergleich hingt etwas, denn mein Vater war sein Bruder und wir sind also durchaus blutsverwandt. Ed sieht mich mürrisch an, ich werde diese Diskussion nicht gewinnen.
»Eine Woche, dann sehen wir weiter«, gebe ich nach. Die Wir-sind-eine-Familie-Nummer zieht immer und das weiß dieser ausgekochte Hund genau.
»Ich wusste, dass auf dich Verlass ist. Ich gebe gleich Grace Bescheid.« Er ist schon fast durch die Tür verschwunden.
»Wann kommt sie denn hier an?«, rufe ich ihm nach. Er macht zwei Schritte zurück in den Raum und wirft einen Blick auf seine Uhr.
»In zwei Stunden!« Was? Ich bringe ihn um. Das hat er absichtlich gemacht, damit ich keinen Rückzieher machen kann. Ich stöhne resigniert und sinke tiefer in meinen Stuhl. Shit!

»James, hören Sie überhaupt zu?«, überrascht sehe ich zu meinen Gesprächspartnern auf. Verdammt, ich habe nicht zugehört, das passiert mir sonst nie. Ich bin immer wachsam und auf alles vorbereitet, aber im Moment rotieren meine Gedanken in Endlosschleife, und ich bin unkonzentriert und seltsam nervös.
»Wir verschieben das Meeting. Taylor wird ihnen einen neuen Termin zusenden«, sage ich und bin bereits aufgesprungen.
»Meine Herrn«, verabschiede ich mich und sehe dabei in einige fragende Gesichter. Ich habe noch nie ein Meeting abgebrochen, doch im Augenblick bin ich einfach nicht bei der Sache. Ich trete aus dem Raum, bevor jemand antworten kann. Taylor eilt hinter mir her.
»Alles in Ordnung Mister Harrison?«
»Sagen Sie bitte alle weiteren Termine für heute ab.« Ich nehme meine Aktentasche, verlasse das Büro und gehe nach oben und atme tief durch, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Grace ist noch nicht mal hier und ich werde schon verrückt. Ich schenke mir einen Cognac ein und schwenke ihn leicht im Glas. Worauf habe ich mich nur eingelassen?

Zwei Drinks später stelle ich das Kristallglas auf dem Beistelltisch ab, als es an der Tür klingelt. Die Außenkamera zeigt einen Typen mit Latzhose und Borstenschnitt, der eine Topfpflanze in der Hand hält. Er drückt sein Gesicht so nah an die Kamera, dass ich in seine Nasenlöcher sehen kann.
»Mister Harrison, wir haben hier eine Lieferung für Sie«, ich hoffe, dass es nur dieser Blumentopf ist. Das Summen des Türöffners erklingt und der Kerl stößt die Tür auf. Ihm folgen fünf weitere Kerle und jeder von ihnen hat eine Kiste in den Händen. Was soll das werden? Ich öffne die Tür zu meiner Wohnung, der Latzhosenträger sieht mich freundlich an.
»Hey, wo soll das Zeug hin?«, fragt er. Ich bin so perplex, dass ich einfach zur Seite trete und dabei zusehe, wie die Kerle in meine Wohnung trampeln.
»Wow, krasse Bude«, sagt einer von ihnen und stellt die Kiste neben dem Ledersofa ab und sieht sich um. Die anderen bringen bereits eine weitere Runde Kartons und eine Stehlampe herein. Halt, was soll der Scheiß!
»Warten Sie«, halte ich den Kerl mit der Latzhose auf. Er sieht mich fragend an.
»Was ist das alles für Zeug?«, frage ich und betrachte den beachtlichen Stapel an Kartons.
»Das sind die Sachen von Miss Adams. Uns wurde gesagt, wir sollen es an diese Adresse liefern und das machen wir gerade.« Kurz schließe ich die Augen und atme tief durch. In Gedanken zähle ich bis fünf um mich zu entspannen. Eine Woche war abgesprochen aber das hier sieht nach für immer aus. Zwei von den Möbelpackern tragen gerade ein Sofa herein.
»Stopp«, blaffe ich. Dieses Monstrum werden sie nicht in meine Wohnung bringen. Was soll das überhaupt sein? Roter Samt? Die zwei halten in der Bewegung inne.
»Nehmen Sie das Teil wieder mit«, weise ich an. Ich werde Ed den Hals umdrehen, sobald ich ihn in die Finger bekomme.
»Mister Harrison, wir machen nur unseren Job. Wir sollen liefern, wir liefern. Alles andere müssen Sie mit Miss Adams klären.« Ich kneife mir in den Nasenrücken, um nicht zu explodieren.
»Und wo ist Miss Adams?«, frage ich so ruhig wie möglich.
»Sie kommt mit dem nächsten Wagen«, sagt er trocken. Ich sehe mich in dem Chaos um, noch eine Ladung von all dem Krempel und ich eröffne einen Flohmarkt.
»Okay. Sie hören mir jetzt genau zu, denn ich sage das nur ein einziges Mal. Sie nehmen diesen Kram und schaffen ihn zurück in ihren Transporter. Ich will das Zeug hier nicht haben«, fahre ich ihn an. Um mich zu beruhigen, zupfe ich an meinen Manschettenknöpfen und zähle erneut in Gedanken bis fünf. Die Wohnung gleicht einem Trödelladen, das kann doch nicht alles Grace gehören.
»Was ist denn hier los?«, erklingt eine schrille Stimme. Erschrocken fahre ich herum und starre sie an. Grace steht im Türrahmen und mustert uns neugierig. Ihr orangegoldenes Haar hat sie zu zwei Zöpfen geflochten und sie trägt eine Latzhose mit Blumenmuster. Ist heute offizieller Tag der Latzhose oder was? Etwas zu meinen Füßen erweckt meine Aufmerksamkeit. Oh nein, niemals!
»Mister Harrison möchte, dass wir die Sachen wieder mitnehmen«, klärt der Möbelpacker Grace auf.
»Ach ja und warum möchte Mister Harrison das?«, fragt sie an mich gewandt. Dieses Etwas macht sich gerade über mein Hosenbein her. Ich will es abschütteln, scheitere aber, weil es sich immer weiter daran festbeißt.
»Was wird das hier Grace?«, stelle ich eine Gegenfrage, ohne auf ihre Frage zu antworten.
»Ich ziehe bei dir ein«, sie lächelt mich an, was ihre roten Wangen noch mehr zum Vorschein bringt.
»Nein, das tust du nicht. Ich habe 'vorübergehend' gesagt. Was bedeutet, dass du nicht mehr als einen Koffer mitbringst und keinen ganzen Trödelmarkt«, stelle ich klar und versuche erneut das Fellknäuel loszuwerden. Gnadenlos beißt es sich in dem dreitausend Dollar Anzug fest und macht dabei komische Geräusche.
»Ja, aber wo soll ich denn hin mit all meinen Sachen?«, fragt sie und löst endlich das Ungeheuer von meinem Hosenbein. Sie nimmt es auf den Arm und krault es.
»Schon mal was von einlagern gehört?«, zische ich genervt und sehe mir den Schaden an meiner Hose an. Grace schnaubt.
»Das kann ich mir nicht leisten«, zischt sie zurück. Ich sehe zu den Möbelpackern, die unsere Debatte neugierig beobachten. Ich massiere mir die Schläfen, weil ich von dem Mist hier Kopfschmerzen bekomme.
»Okay, ich übernehme die Kosten dafür. Packen Sie die Möbel wieder ein, nur das Nötigste bleibt hier«, gebe ich schließlich nach und gebe den Jungs ein Zeichen das sie loslegen sollen. Ich richte meinen Blick wieder auf Grace, die mich etwas ungläubig ansieht. Sie hat sich kaum verändert, außer das ihr Gesicht nicht mehr so rundlich ist wie damals.
»Das da ...«, sage ich und deute auf das Tier in ihrem Arm, das inzwischen eingeschlafen ist.
»... bleibt nicht hier«, vollende ich meinen Satz. Grace schnappt nach Luft und setzt zu einer Antwort an.
»Das ist nicht verhandelbar!«, nehme ich ihr den Wind aus den Segeln. Die Einrichtung hat ein Vermögen gekostet und ich werde nicht erlauben, dass der Köter alles ankaut.

 

 

Grace


Na super, so habe ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt und am wenigsten habe ich damit gerechnet, dass James zu einem richtigen Leckerbissen herangewachsen ist. Die Damenwelt wird es dem lieben Herrgott danken, dass er so ein Exemplar kreiert hat.
»Wenn Cupcake nicht bleiben darf, werde ich auch nicht bleiben!«, stelle ich klar. Er kann doch nicht wirklich glauben, dass ich mein Baby hergebe, nur damit er mir ein Dach über den Kopf gibt.
»Ach ja und wo willst du deiner Meinung nach dann unterkommen?«, fragt er sarkastisch, da er weiß, dass ich keine anderen Optionen habe. Ich habe bei Ed unterkommen wollen, aber seine neue Frau will mich nicht in ihrem Haus haben. Seinen Vorschlag, bei James zu wohnen, habe ich nur angenommen, weil ich bereits auf meinen gepackten Sachen gesessen habe und es mir an Alternativen gefehlt hat. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass es so schwer ist in dieser Stadt eine bezahlbare Bleibe zu finden.
»Ich werde schon etwas finden«, sage ich schnippisch. Die Möbelpacker stehen unschlüssig im Wohnzimmer.
»Gut, dann viel Erfolg dabei«, sagt er trocken und wendet sich ab. Er greift nach dem Glas auf dem Beistelltisch und trinkt es mit einem Zug aus.
»Was?«, stoße ich entsetzt aus. Er setzt mich wirklich vor die Tür? Was ist aus dem netten Jungen von damals geworden? James benimmt sich wie ein Arschloch.
»Du willst gehen, dann geh. Niemand zwingt dich hierzubleiben.« Boah eh! So ein Idiot! Ich drücke Cupcake fester an mich. Ich würde James jetzt wirklich gerne gegen die Wand klatschen.
»Ich störe ja nur ungern, aber was ist denn nun mit den Sachen?«, fragt der Typ in der blauen Latzhose und sieht amüsiert zwischen James und mir hin und her.
»Die nehmen Sie wieder mit!«
»Sie bleiben hier!«, sagen wir gleichzeitig. Wir starren einander an und fechten es nur mit Blicken aus. James seine schokoladenbraunen Augen bohren sich in meine. Wow, hatte er schon immer so schöne Augen? Konzentrier dich Grace! Er kaut auf der Innenseite seiner Wange herum, das hat er schon als Kind gemacht und es ist ein sicheres Zeichen dafür, dass er gleich an die Decke geht.
»Grace, wenn du bleiben willst, dann zu meinen Bedingungen.« Ich will diese Karte wirklich nicht ausspielen, aber er lässt mir einfach keine andere Wahl.
»Okay dann werde ich Ed anrufen«, sage ich zuckersüß. Peng! James explodiert.
»Echt jetzt! Wie alt bist du fünf? Du rufst Daddy an, damit er mit dem bösen James schimpft. Verdammt Grace, du bist erwachsen, also benimm dich gefälligst auch so!«, brüllt er mich an. Der Schuss ging wohl nach hinten los. Ich straffe die Schultern und mache auf dem Absatz kehrt.
»Und du benimmst dich wie ein Vollidiot!«, zicke ich zurück und trete durch die Tür. Prima, was mache ich jetzt? Cupcake schlabbert mir tröstend durch das Gesicht. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut James wiederzusehen aber er sich offensichtlich nicht.

Seit einer halben Stunde sitze ich auf dem Bordstein und weiß nicht, wo ich jetzt unterkommen soll. Die Möbelpacker haben bereits das Meiste meiner Sachen wieder verstaut.
»Sollen wir Sie irgendwohin mitnehmen, Miss?«, fragt der Latzhosentyp und sieht mich dabei mitleidig an. Mit einem lauten Knall schließt er den Transporter. Ich stehe auf und klopfe mir den Staub von der Hose, Cupcake hüpft aufgeregt neben mir auf und ab. Wo bringen sie meine Sachen denn jetzt überhaupt hin?
»Okay Grace, du hast gewonnen, aber der Köter bleibt im Gästezimmer!«, sagt James streng, als er wie aus dem Nichts plötzlich hinter mir steht. Überrascht drehe ich mich zu ihm um und möchte ihm wirklich gerne um den Hals fallen, aber er sieht nicht so aus als würde ihm das gefallen.
»Danke«, sage ich erleichtert. Einer der Möbelpacker schnauft laut.
»Wir tragen das jetzt aber nicht alles wieder hoch«, stellt er klar und steigt demonstrativ in den Wagen. James kneift sich kurz in den Nasenrücken, bevor er spricht.
»Stellen Sie die Kisten hier ab, ich trage sie selbst hoch.« Ist er sich da sicher? Das werden eine Menge Kartons, die er da schleppen muss. James macht zwei Schritte zur Seite, als Cupcake sich erneut in seinem Hosenbein festbeißen will.
»Gewöhn ihm das ab!«, zischt er und greift sich die erste Kiste. Ich sehe ihm nach, verdammt ist das eine hübsche Rückansicht. Die Jungs stapeln mein Hab und Gut auf dem Bürgersteig und machen sich aus dem Staub, sobald die letzte Kiste ausgeladen ist. James kommt zurück und schnappt sich schweigend die Nächste und verschwindet wieder ins Haus. Und jetzt? Ich kann die Sachen doch nicht unbeaufsichtigt hier stehen lassen. Am Ende klaut sie noch jemand. Wobei das in dieser vornehmen Wohngegend eher unwahrscheinlich ist. Die Villa, die James bewohnt, ist außerdem umzäunt, hier kommt so einfach keiner rein. Ich schnappe mir eine Kiste und eile James nach, Cupcake trottet brav neben mir her. Auf der Hälfte gebe ich auf, ich habe wahrscheinlich die Bücherkiste erwischt, denn sie ist höllisch schwer. James kommt mir entgegen und sieht mich fragend an. Er hat nicht mal Schweißperlen auf der Stirn, aber er hat inzwischen das Jackett ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt.
»Gib her«, sagt er knapp und kommt auf mich zu, um mir die Kiste abzunehmen. Seine Finger streifen kurz meine und ich zucke überrascht zurück. James bekommt den Karton nicht mehr zu fassen und sie fällt die Treppe herunter. Natürlich platzt sie auf und der Inhalt verteilt sich auf den einzelnen Stufen.
»Scheiße«, fluche ich und beginne die Sachen einzusammeln. Ich wünschte, es wären Bücher gewesen, stattdessen befindet sich ein Großteil meiner Klamotten inklusive Unterwäsche darin. James bückt sich und fischt einen pinken Spitzen-BH aus dem Chaos und lässt ihn an seinem Zeigefinger baumeln.
»Hübsch«, grinst er mich an. Ich stolpere die Treppen rauf um ihm das Teil zu entreißen, aber er hält es weiter hoch und lacht. Ach das findet er jetzt witzig. Erst benimmt er sich wie ein Vollidiot und jetzt macht er einen auf Sunnyboy, aber nicht mit mir. Ich stelle mich zu ihm auf die Stufe und strecke mich, verdammt ich komme nicht ran.
»Das ist nicht lustig«, schnaufe ich und stelle mich zusätzlich auf die Zehenspitzen.
»Ich finde schon, dass es das ist«, erwidert er und streckt sich ebenfalls. Mistkerl! Noch ein kleines Stück, dann hab ich ihn. Plötzlich verliere ich das Gleichgewicht, James umfasst blitzschnell meine Taille und zieht mich zurück auf die Treppenstufe. Er ist mir so nah, dass kein Blatt zwischen uns passt und ich fühle diese Vertrautheit, die wir als Teenager schon hatten. Wie gut er sich anfühlt, ich habe meine Arme auf der Suche nach halt fest um ihn geschlungen. Ich atme tief ein, was wirklich ein Fehler ist, denn James riecht unverschämt gut. Wonach riecht er bloß? Egal was es ist, ich würde es ihm am liebsten von seinem hübschen Hals lecken. James starrt mich einen Moment lang an, dann schließt er die Augen. In Gedanken zähle ich mit, vier, fünf. Als er sie wieder öffnet, ist der Moment vorbei und er schiebt mich sanft von sich.
»Du sammelst die Sachen auf und ich hole die anderen Kisten«, er eilt die Treppe herunter und stolpert dabei fast über Cupcake, der sich tief in meine Klamotten vergraben hat. Ich kann ihn leise fluchen hören. Na das kann ja was werden. Ich schnappe mir die Pappkiste und stopfe die Sachen wieder hinein.

»So, das war die Letzte«, stöhnt James, als er sie abstellt. Ich habe Cupcake auf dem Arm, damit er keinen Unfug macht.
»Danke«, sage ich, James nickt nur knapp. Er schwitzt von der Anstrengung. Die ersten zehn Kisten hat er noch locker bis in die dritte Etage getragen, die anderen acht sind ihm zunehmend schwerer gefallen. Seine Haut glänzt feucht und das Hemd klebt leicht an seiner durchtrainierten Brust. Die schwarzen Haare hängen ihm in die Stirn, er fährt mit den Fingern hindurch und streicht sie nach hinten. Bei dieser Bewegung spannt sich sein Hemd noch mehr über seinen Körper. Verdammt, ich starre ihn an. James war auf der Highschool schon ein Mädchenschwarm, aber jetzt ist er heiß. Er räuspert sich.
»Also dein Zimmer ist die Treppe herauf, zweite Tür rechts. Du entschuldigst mich, ich muss dringend unter die Dusche.« Ja, die kann ich auch vertragen, und zwar kalt.

Bevor ich nach oben gehe, sehe ich mich etwas in der Wohnung um. Die Einrichtung ist eine Mischung aus sterilem weiß und maskulinem Leder. Die Küche ist auf Hochglanz poliert, sie sieht unbenutzt aus und an den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotografien, die irgendwie abstrakt aussehen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass James all das hier ausgesucht hat. Früher war sein Zimmer zugepflastert mit Postern von Basketballspielern, das hier dagegen wirkt einfach nur als würde er auf die Kacke hauen wollen. Vor einer riesigen Glasfront, mit herrlichem Blick in den Garten, steht ein schwarzes Piano. Ich bin mir sicher, dass er nicht spielt, denn ich kann mich nicht daran erinnern ihn schon einmal spielen gehört zu haben. Ich schnappe mir Cupcake und mache mich auf die Suche nach meinem Zimmer. Die zweite Tür links oder rechts? Unschlüssig sehe ich zwischen den beiden Türen hin und her. Ich entscheide mich für die rechts und bin erleichtert, denn es sieht tatsächlich wie ein Gästezimmer aus. Es ist geräumig und weiß. Weißes Bett, weißer Schrank und weiße Wände. Gemütlich ist anders, aber mit etwas Deko wird es schon gehen. Cupcake schnüffelt begeistert und macht sich mit seiner neuen Umgebung vertraut. Ich lehne die Tür an und gehe zurück ins Wohnzimmer, um ein paar Kisten nach oben zu bringen. Damit ich nur das wichtigste schleppen muss, sehe ich hinein.
»Grace!«, brüllt es von oben. Oho Cupcake, den habe ich völlig vergessen. Ich renne die Treppe rauf, während James laut flucht.
»Lass sofort los, du Kröte!«, redet er auf die kleine Bulldogge ein, die sich schon wieder an seinem Hosenbein zu schaffen macht und knurrt. Zum Glück ist es diesmal kein Designeranzug, sondern eine graue Jogginghose. Kurz beobachte ich die Szene, die schon irgendwie komisch ist, aber letztendlich eile ich ihm zur Hilfe.
»Aus!«, sage ich und er lässt sofort von ihm ab. James sieht mich mürrisch an.
»Gästezimmer habe ich gesagt«, mault James und geht die Treppe nach unten.
»Tja Cupcake, dein Charme zieht bei James wohl nicht«, erkläre ich der Bulldogge und streichel ihm dabei über den Kopf. Ich bringe Cupcake zurück in das Zimmer und schließe die Tür. James sitzt im Schneidersitz auf dem Ledersofa und kaut auf dem Bügel einer Brille herum. Den Blick hat er fest auf den Laptop gerichtet, der auf seinem Schoß steht. Ohne diesen steifen Anzug sieht er viel freundlicher und um einiges Jünger aus.
Für einen Augenblick beobachte ich ihn und frage mich, wie er die letzten Jahre verbracht hat. Nach der Scheidung von Mom und Ed haben wir uns aus den Augen verloren, weil er es so wollte. Von einem Tag auf den anderen war er aus meinem Leben verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt. Dabei waren wir uns mal so nah gewesen.
»Du starrst mich schon wieder an«, sagt er, ohne in meine Richtung zu sehen. Erwischt! Was soll ich sonst machen als ihn anzustarren? Ich habe schließlich geglaubt, dass ich ihn nie wieder sehen werde, umso überraschter war ich, als Ed sagte, dass James mich aufnehmen würde. Und jetzt bin ich hier und er ist nicht mehr der Junge, der er in meinen Gedanken immer geblieben ist. Der Junge, dem die zu langen schwarzen Haare ständig in sein hübsches Gesicht hingen, der mit mir auf Bäume geklettert ist und sich ständig an dem Essen auf meinem Teller bedient hat. James ist jetzt so anders, plötzlich ist er erwachsen und nicht mehr mein Peter Pan.
»Oh, entschuldige«, ich greife mir eine der Kisten und trete den Rückzug an. James stößt hörbar die Luft aus und stellt den Laptop zur Seite.
»Warte, ich helfe dir.« Er nimmt sie mir ab und achtet dieses Mal darauf, dass wir uns nicht berühren.

 

 

James


Grace Adams. Meine Gedanken fahren Achterbahn, einmal vorwärts, einmal rückwärts und ich befürchte, dass ich dadurch ein Schleudertrauma erleide. Was hat Ed sich nur dabei gedacht, Grace ausgerechnet bei mir abzuladen. Sie wird alles über den Haufen schmeißen, was ich mir in all den Jahren aufgebaut habe. Zehn Jahre habe ich es geschafft sie aus meinem Leben fernzuhalten und jetzt steht sie plötzlich vor mir, und ich fühle mich wieder wie fünfzehn. Eine Zeit, an die ich mich nicht gerne zurückerinnere und doch bin ich genau deswegen jetzt hier.
»Wo soll die hin?«, frage ich sie. Grace sieht sich um, das Zimmer ist voller Kisten, vielleicht hätte ich ihr den Abstellraum dafür anbieten sollen. Der Wadenbeißer liegt auf dem Bett und hat alle Viere von sich gestreckt, während er vor sich hin schnarcht.
»Mmh keine Ahnung, stell sie einfach ab«, antwortet sie. Mein Magen knurrt, ich werfe einen Blick auf die Uhr, es ist schon ziemlich spät und Grace hat sicher noch nichts gegessen. Ich stapel die Kiste auf eine andere und mustere Grace unauffällig von der Seite. Sie hat sich wirklich kaum verändert. Ich kenne jede einzelne Sommersprosse in ihrem Gesicht und den Schwung ihrer Lippen. Alles an Grace erinnert mich an zu Hause und genau das ist das Problem. Ich habe kein Zuhause mehr seit dem Tag, an dem ich gehen musste.
»Hunger?«, werfe ich in die Stille und wende meinen Blick von ihr ab. Sie stöhnt leise auf und ich zucke bei dem Geräusch leicht zusammen.
»Ich dachte schon, du fragst nie«, lächelt sie mich an.
»Auf was hast du Lust?«
»Was hast du denn da?«, fragt sie und ich überlege kurz. Ich esse für gewöhnlich nie hier, was bedeutet, dass der Kühlschrank wahrscheinlich leer ist.
»Ich war nicht auf Besuch eingestellt«, gestehe ich. An sowas wie Einkaufen habe ich überhaupt nicht gedacht und Ed hat mir auch ein ziemlich knappes Zeitfenster gelassen, um Grace Ankunft vorzubereiten.
»Wir könnten was bestellen«, schlage ich vor.
»Pizza wäre toll«, strahlt sie mich an. Ich hatte eher an etwas wie Sushi oder weniger Fettiges gedacht. Pizza steht seit Jahren nicht mehr auf meinem Speiseplan, denn die wenigsten meiner Geschäftspartner wollen in eine Pizzeria gehen.
»Okay, ich glaube, die Straße runter ist ein Italiener. Ich werde mal die Telefonnummer raussuchen. Weißt du schon was du möchtest?« Ich google bereits die Nummer des Italieners.
»Ich würde lieber ausgehen«, entgegnet sie vorsichtig. Ausgehen? Mit mir? Das ist wirklich keine gute Idee.
»Du willst mit mir ausgehen?«, hake ich nach. Grace zieht fragend die Augenbrauen zusammen.
»Was? Nein! Cupcake muss sowieso noch mal an die frische Luft und ich dachte, wir könnten bei der Gelegenheit gleich etwas essen.«
»Tut mir leid, aber ich muss ablehnen. Mit dir gesehen zu werden, kann ich im Moment echt nicht gebrauchen«, lehne ich ab. Seit der Sache mit RAIDASE lebe ich wie auf dem Präsentierteller, die Jungs haben sich rar gemacht und mir lauert die Presse ständig auf, sobald ich einen Schritt vor die Tür setze. Mit Grace eine gemütliche Runde spazieren zu gehen wäre ein gefundenes Fressen, vor allem weil ich erst kürzlich zum begehrtesten Junggesellen gewählt wurde. Wir würden schon ein seltsames Paar abgeben. Grace mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und Blümchenlatzhose und ich mit einem dreitausend Dollar Anzug und einer Rolex am Handgelenk. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein und das waren wir schon immer. Sie war das freundliche Mädchen und ich der Junge, der ständig über die Stränge schlug.
»Na vielen Dank auch. Mister Highclass will also nicht mit dem Fußvolk gesehen werden.« Ihr Gesicht hat einen leichten Rotton angenommen. Sie ist sauer, super, muss sie denn alles in den falschen Hals bekommen. Das ist noch etwas, was sich an ihr nicht verändert hat.
»So meine ich das nicht. In meinem Leben ist gerade ziemlich viel los, diese Art von Drama kann ich mir nicht leisten«, sage ich, um die Wogen zu glätten. Wenn man mich mit ihr sieht, wird die Presse wühlen, so wie sie es immer macht, und sie werden ein paar unschöne Dinge finden, die mir wahrscheinlich das Genick brechen werden. Ich habe zu hart gearbeitet, um all das so leichtsinnig aufs Spiel zu setzen.
»Wie du meinst, dann gehe ich eben allein«, schnippt sie zurück. War sie schon immer so zickig? Um ehrlich zu sein, ist es mir lieber sie kann mich nicht ausstehen, als das sie mich wie ein saftiges Steak anstarrt. Genervt trete ich den Rückzug an. Eine Woche, dann bin ich sie wieder los.

Schließlich bestelle ich für Grace eine Pizza und Sushi für mich. Sie kommt mit dem Fellknäuel die Treppe runter und würdigt mich keines Blickes.
»Der Schlüssel liegt auf dem Tisch neben der Tür«, sage ich und sehe wieder auf meine E-Mails. Mit einem Klacken fällt die Tür ins Schloss. Erleichtert atme ich aus, das wird die härteste Woche meines Lebens. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, eigentlich sollte Grace so spät nicht mehr draußen herumlaufen. Mist, jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich sie allein gehen ließ. Als der Lieferservice klingelt, ist Grace immer noch nicht zurück. Langsam werde ich ungeduldig, hoffentlich ist ihr nichts passiert.
Ich starre auf das Sushi, mir ist der Appetit vergangen und die Pizza ist inzwischen kalt. Fuck! Ich springe von dem Sofa auf, schnappe mir meine Schlüssel und mache mich auf die Suche nach Grace. Wie konnte ich sie nur alleine gehen lassen, sie kennt sich hier doch überhaupt nicht aus und wenn ihr etwas zustößt macht Ed mich einen Kopf kürzer. Ich kann sie nicht mal anrufen, weil ich ihre Nummer nicht habe und wenn ich Ed danach frage, weiß er sofort das etwas faul ist. Das Ganze ist total bescheuert, weil ich gar nicht weiß, wo ich suchen soll. Sie könnte in jede Richtung verschwunden sein.

Ich gebe auf. Nach einer Stunde habe ich sie immer noch nicht gefunden und hoffe, dass sie den Weg alleine zurückgefunden hat. Die Pizza ist verschwunden, Grace ist also wieder da. Wo hat sie nur so lange gesteckt? Ich klopfe leise an ihre Tür und warte auf eine Antwort.
»Ja«, erklingt ihre Stimme erstickt von der anderen Seite der Tür. Was macht sie da drin? Ich öffne die Tür und bleibe im Türrahmen stehen.
»Was machst du denn da?«, frage ich verwundert. Das Zimmer gleicht einem Bombeneinschlag. Die Kisten sind aufgerissen und überall auf dem Boden liegt Zeug verstreut. Grace steckt mit dem Kopf tief vergraben in einer Kiste und streckt mir ihren geblümten Hintern entgegen. Ich kann gar nicht anders als darauf zu starren.
»Ich suche etwas«, antwortet sie und wühlt weiter in dem Karton herum. Ja das ist offensichtlich. Die Pizzaschachtel steht auf dem Bett und der Köter macht sich gerade genüsslich über die Reste her. Wieder landet mein Blick auf ihrem Po. Verdammt!
»Starrst du mir etwa auf den Arsch?«, fragt sie, ohne mich anzusehen. Erwischt! Jetzt sind wir quitt, sie hat mich schließlich ebenfalls abgecheckt.
»Was, nein!«, lüge ich und löse den Blick von ihr.
»Kann ich dir irgendwie helfen oder warum bist du hier?«, fragt sie und richtet sich endlich auf. Ihre Wangen sind von der Anstrengung gerötet und eine Strähne hängt ihr ins Gesicht. Sie pustet sie weg, aber prompt fällt sie wieder zurück.
»Ich habe nach dir gesucht. Ich dachte, du hättest dich draußen verlaufen«, antworte ich ehrlich. Grace klemmt sich eine kleine Tasche unter den Arm und kommt auf mich zu.
»Prinz Charming macht sich also Sorgen um den Bauerntrampel«, feixt sie. Ich schließe kurz genervt die Augen. So habe ich das überhaupt nicht gemeint und das weiß sie ganz genau. Sie klopft mir auf die Schulter als wären wir alte Kumpels.
»Keine Angst, nicht nur du willst nicht mit mir gesehen werden«, sagt sie zynisch und geht an mir vorbei. Wie meint sie das denn jetzt?
»Wo ist das Bad?«
»Geradezu«, antworte ich und sehe ihr nach wie sie hinter der Tür verschwindet. Mein Blick schweift über das Chaos, Grace hat sich überhaupt nicht verändert. Das Monster sieht mich herausfordernd an und bringt sich in Angriffsstellung. Vergiss es! Ich schließe die Tür, bevor er vom Bett hüpfen kann.

Ich beantworte die letzten E-Mails weit nach Mitternacht. Der Laptop liegt aufgeklappt neben mir auf dem Bett und taucht den Raum in seichtes Licht. Grace' Zimmer ist genau nebenan und seit einer Weile ist es mucksmäuschenstill. Im Gegensatz zu den Gedanken, die laut in meinem Kopf herumwirbeln und mir den Schlaf rauben. Verdammt! Frustriert schleiche ich die Treppe herunter und schenke mir einen Cognac ein, wenn es so weiter geht entwickle ich dank Grace noch ein ernstes Alkoholproblem. Das erste Mal seit Jahren fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut, weil ich kurz davor bin die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Sie ist noch nicht mal vierundzwanzig Stunden hier und schon geht alles den Bach runter. Das verpatzte Meeting, die abgesagten Termine und meine Unkonzentriertheit passen mir gar nicht. Ich habe es ganz nach oben geschafft, weil ich nie mein Ziel vor Augen verloren habe, und jetzt stehe ich mitten in der Nacht in meinem Wohnzimmer und weiß nicht wohin mit mir.
Mein Blick fällt auf das Piano am Fenster, es gehört zu den wenigen Dingen in dieser Wohnung, die ich selbst ausgesucht habe und bei meinem Umzug hierher mitgenommen habe. In den letzten Jahren habe ich kaum darauf gespielt, nur in ganz schwachen Moment setzte ich mich daran und blende damit für eine Weile die Welt aus. Ich stelle das Glas auf dem Piano ab und schaue in die Nacht hinaus. Mit den Fingern streiche ich über die Tasten und drücke schließlich das tiefe C. Ist jetzt einer dieser Momente? Ich setze mich und spiele die ersten Töne von Claire de Lune. Wie passend, denn der Vollmond scheint durch das riesige Fenster und sieht spöttisch auf mich herab.

 

 

Grace


Seit mehr als einer Stunde wälze ich mich nun schon in dem Bett herum. Cupcake schnarcht leise neben mir und fühlt sich hier sichtlich wohl. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von mir behaupten, aber James' Anwesenheit macht mich seltsam nervös. Leise Musik dringt durch die Wände, neugierig stehe ich auf und schleiche mich aus dem Zimmer. Wow, das klingt wirklich schön. James spielt also doch. Verdammt, das macht ihn gleich noch attraktiver als er ohnehin schon ist. Ich stehe oben an der Treppe und habe von hier aus einen super Blick auf James, der mit gesenktem Kopf am Piano sitzt und vom Mondlicht perfekt in Szene gesetzt wird. Wie hypnotisiert starre ich auf das Bild, welches sich mir bietet, und bin fasziniert von dem Mann, den ich als Mädchen geliebt habe und von dem ich eigentlich dachte, dass ich schon lange über ihn hinweg bin. Bevor er mich bemerkt, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück und das erste Mal seit einer Ewigkeit träume ich in dieser Nacht von James.
*
»Ja, schon gut, ich stehe schon auf« stöhne ich, während Cupcake munter über mein Gesicht leckt und mich zwingt aus dem Bett zu kriechen. Ich schnappe mir seinen Napf, das Futter und trotte aus dem Zimmer. Am unteren Absatz der Treppe bleibe ich allerdings wie erstarrt stehen, denn James steht bereits in der Küche und ist nackt. Gut nicht ganz, er hat eine Jogginghose an und hantiert an der Kaffeemaschine herum. Innerlich stöhne ich laut auf, muss es wirklich sein, dass er so herumläuft? Klar ist es seine Wohnung, aber ihm sollte doch bewusst sein, dass ich jeden Moment die Treppe herunter kommen könnte und er dann so vor mir stehen würde. Verdammt! Seine gebräunte Haut und die breiten Schultern sind die reinste Versuchung. Ich beobachte das Spiel seiner Muskeln, als er die Küchenschränke öffnet und Geschirr heraus nimmt.
»Du starrst mich schon wieder an.« Mist, er hat mich bemerkt, dabei wollte ich gerade in mein Zimmer zurückschleichen. Ich sehe an mir herunter und seufze. In meinem Flamingo-Pyjama mache ich nicht gerade die beste Figur. Er bietet mir so eine Aussicht und ich sehe aus wie eine Zwölfjährige auf einer Übernachtungsparty.
»Hübsch«, sagt er, als er mir einen Blick über seine Schulter zuwirft. Schokoladenbraune Augen funkeln mich belustigt an. Wie er wohl gucken würde, wenn ich mir hier und jetzt einfach die Kleider vom Leib reißen würde?
»Meine Aussicht ist auch nicht schlecht«, entgegne ich keck. Kurz zuckt er zusammen und senkt den Kopf. Was? Hat er etwa vergessen, dass er fast nackt in seiner Küche steht. Er strafft die Schultern und dreht sich zu mir um. In diesem Moment sterbe ich das erste Mal, weil dieser Kerl auf eine unverschämte Art und Weise einfach perfekt ist. Die schwarzen Haare, die noch feucht vom Duschen sind, die schokoladenbraunen Augen mit diesen unendlich langen Wimpern und der gebräunten Haut, die sich über seine Muskeln spannt. Lässig lehnt er sich an die Arbeitsplatte und nippt an seiner Tasse.
»Ich fühle mich etwas benachteiligt«, sagt er und grinst mich schief an. Flirtet er gerade mit mir, obwohl unzählige Flamingos ihn genauso anstarren wie ich? Cupcake beginnt neben mir zu meckern. Ich räuspere mich kurz. Er steht nicht auf mich, er will mich nur necken. Das hat er früher schon gerne gemacht und ich habe mehr als einmal gehofft, dass es echt gewesen wäre. Doch das diese Version von James an mir interessiert ist, ist noch unwahrscheinlicher als die frühere Version von ihm. Unschlüssig, ob es eine gute Idee ist, gehe ich auf ihn zu und stelle den Napf auf dem Küchentisch ab, um ihn zu füllen. Ich werde einen Teufel tun und auf seine Anspielung eingehen. Cupcake sieht mich erwartungsvoll an und sitzt brav zu meinen Füßen, damit er endlich sein Essen bekommt. Ich stelle es ihm vor die Nase und er macht sich sofort darüber her. James habe ich bewusst den Rücken zu gedreht, weil ich sonst noch anfangen würde zu sabbern. Es ist wirklich gemein, dass er diese Wirkung auf mich hat und ich es nicht vor ihm verbergen kann.
»Kaffee?«, fragt er und stellt eine Tasse vor mir ab, ich sehe ihn fragend an.
»Mit Milch und Zucker. Du siehst aus, als würdest du auf sanft und süß stehen.« Sein Blick gleitet erneut über mich und lässt meine Haut kribbeln. Ich stehe eher auf Schwarz und stark. Und seine Arme sehen wirklich stark aus.
»Ähm ... ja ... Danke«, stottere ich und hefte meine Augen auf die Porzellantasse. Kann er sich vielleicht etwas anziehen, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn er so viel nackte Haut zeigt. James tritt plötzlich hinter mich und stützt sich auf dem Küchentisch ab. Er hält mich zwischen sich und dem Tisch gefangen, ich müsste mich nur leicht zurücklehnen und unsere Körper würden auf Tuchfühlung gehen. Mein Herz hämmert wild in meiner Brust und Verlangen breitet sich zwischen meinen Schenkeln aus. Ich werde nicht protestieren, wenn er mich gleich hier auf dem Küchentisch haben will. Er beugt sich vor und seine Brust berührt meinen Rücken, ich kann seinen Atem im Nacken spüren.
»Egal was du jetzt denkst, du solltest es dir schleunigst aus dem Kopf schlagen«, haucht er mir ins Ohr und bringt genauso schnell Abstand zwischen uns, wie er mir nah gekommen ist. Verdammt, dieser Mistkerl hat mit mir gespielt und ich bin darauf hereingefallen. Ohne ein weiteres Wort geht er und lässt mich allein. Genervt stoße ich die Luft aus und nehme Cupcakes Napf und stelle ihn in die Spüle.
»So ein Idiot! Dem werden wir es zeigen«, sage ich und kraule ihn hinter den Ohren. Zur Strafe darf Cupcake sein Geschäft in James Garten machen.

Ich tausche meinen Schlafanzug gegen Leggings und einen Oversize Pullover, weil ich es morgens lieber bequem mag. Gemeinsam mit Cupcake verlasse ich die Wohnung. Natürlich lasse ich ihn nicht in James Garten kacken, obwohl ich es wirklich gerne gewollt hätte. Aber bei meinem gestrigen Spaziergang habe ich einen hübschen Park entdeckt und den steuere ich jetzt an. Mein Handy klingelt in der kleinen Umhängetasche, in der ich Leckerli und Kacktüten für die Bulldogge habe.
»Hey Papá«
»Na Princesa, bist du gut angekommen?« Tja, wie man es nimmt.
»Ja, alles bestens«, antworte ich und klinge nicht wirklich überzeugt. Cupcake legt mir erneut den kleinen Ball vor die Füße, ich hebe ihn auf und werfe ihn, damit er ihn holen kann.
»Ist James nett zu dir?« Nett würde ich es nicht gerade nennen, eher unverschämt. Doch ich will nicht klagen, er gibt mir immerhin ein Dach über den Kopf.
»Klar, die Freude mich wiederzusehen, war riesig«, antworte ich sarkastisch und bereue es sofort, ich sollte wirklich nicht so undankbar sein.
»Du weißt doch wie James ist«, versucht Ed, mich zu besänftigen. Nein, das weiß ich nicht, schließlich hat er sich vor zehn Jahren einfach aus dem Staub gemacht, ohne sich zu verabschieden. Ja, er war mit fünfzehn auch schon unverschämt, aber eher auf die Art – ich ziehe dir an den Zöpfen und klaue dir deine Süßigkeiten. Jetzt ist er auf eine unverschämte Art sexy und überheblich zugleich und das nervt. Da liegen also Welten dazwischen und trotzdem fühle ich mich von ihm angezogen wie die Motte vom Licht.
»Wie sehen deine Pläne für heute aus?«, fragt er und lenkt unser Gespräch in eine andere Richtung, was nicht gerade besser ist. Ich bin zwar hierher gekommen, weil ich dringend einen Tapetenwechsel wollte und Mom mir mit ihrem neuen Lover gehörig auf die Nerven ging, aber einen richtigen Plan für die Zukunft habe ich nicht. Ideen habe ich schon, nur an der Umsetzung hapert es noch gewaltig.
»Ich dachte ich packe erstmal aus, obwohl das eigentlich Quatsch ist, weil James mich in einer Woche wieder vor die Tür setzen wird.« Dieses kleine Detail hat Ed nämlich vergessen zu erwähnen, als er zu mir sagte, ich könne bei James wohnen.
»Das wird er nicht, er braucht nur etwas Zeit um sich an dich zu gewöhnen. Wir sind eine Familie und halten zusammen, das weiß er. Du könntest zum Mittag in den Pub kommen, und dann erzählst du mir alles über deinen Businessplan«, schlägt er vor. Mist, vielleicht hätte ich das nicht als Vorwand für meinen Umzug angeben sollen.
»Klar, warum nicht.«
»Okay Princesa, ich freue mich auf dich«, verabschiedet er sich. Na das kann ja was werden, wo bekomme ich so schnell einen Plan her? Ich rufe Cupcake und trete den Rückweg an.

Ich hasse die vielen Treppen in der Altbauvilla jetzt schon, auf der Hälfte schnaufe ich bereits von der Anstrengung. Zu meiner Verteidigung möchte ich anmerken, dass ich Cupcake auf dem Arm habe, weil er sich partout weigert die Stufen selbst nach oben zu laufen. Ich stoße frustriert die Luft aus, als ich an die Treppenstufen denke, die noch vor mir liegen. Eine hübsche Blondine mit Pixicut steht plötzlich vor mir und hätte mich beinahe über den Haufen gerannt, dabei bin ich nun wirklich nicht zu übersehen. Ich habe locker 10 Kilo mehr auf den Hüften als sie, nicht das ich dick wäre, aber sie sieht schon sehr abgemagert aus. Sie wirkt etwas durch den Wind, kommt sie etwa gerade aus James Wohnung? Wollte er wegen ihr nicht mit mir gesehen werden? Er hätte doch einfach sagen können, dass er eine Freundin hat. Mit ihren cremefarbenen Businessklamotten passt sie perfekt zu ihm. Ich stelle es mir gerade bildlich vor. James in einem schwarzen Anzug, was wirklich scharf ist, und sie mit diesem Minirock und High Heels. Das ist wie Schokopudding mit Sahnehäubchen. Neben ihr gebe ich ein wirklich schräges Bild ab, meine beiden Zöpfe habe ich zu Schnecken zusammengedreht und auf meinem Pulli steht tatsächlich, 'vor Schokolade kannst du dich nicht verstecken - Sie findet dich!' Über die dreckigen Sneakers an meinen Füßen will ich gar nicht erst nachdenken.
»Sorry, ich habe dich nicht gesehen«, entschuldigt sie sich höflich.
»Keine Panik auf der Titanic, ist ja nix passiert«, boah, kann mir mal jemand vor die Stirn klatschen. Blondie zieht amüsiert die Mundwinkel nach oben. Klar, findet sie mich sicher putzig, so wie ich hier vor ihr stehe und dummes Zeug quatsche.
»Das ist ja ein süßer Mops«, sie tätschelt Cupcake den Kopf und ich drehe mich demonstrativ zur Seite. Nur gucken nicht anfassen, das Gleiche gilt übrigens auch für James.
»Das ist kein Mops, das ist eine französische Bulldogge«, zische ich sie an. Welcher Mensch kann denn bitte einen Mops nicht von einer Bulldogge unterscheiden?
»Natürlich. Was machst du hier? Ich habe dich hier noch nie gesehen.« Das würde ich sie auch gerne fragen, aber noch viel lieber würde ich sie direkt die Treppe runterschubsen, weil sie so hübsch und gut angezogen ist.
»Ich wohne hier«, sage ich und recke das Kinn etwas höher. Sie reißt überrascht die Augen auf. Pah, damit hat sie wohl nicht gerechnet.
»Ernsthaft?«, abschätzig sieht sie mich an. Ich mag vielleicht im Augenblick nicht die beste Figur abgeben, aber hey, ich schlafe unter einem Dach mit Mister Hot höchstpersönlich, da kann sie ruhig neidisch gucken und auf ihren Mörderschuhen davon stöckeln.
»Ernsthaft, wenn du mich jetzt entschuldigst, oben wartet ein Brownie auf mich«, vielsagend wackle ich mit den Augenbrauen und lasse sie stehen. Ich kann sie hinter mir schnaufen hören.

Was ich allerdings in meinem Wahn von Eifersucht nicht bedacht habe ist, was wenn sie wirklich seine Freundin ist? James wird es nicht gefallen, wenn Blondie ihm deswegen die Hölle heiß macht, aber sie hat mich wirklich provoziert. Die Wohnung ist verdächtig still, als ich sie betrete, James scheint ausgeflogen zu sein. Was mich aber nicht wundert, denn er hat im Gegensatz zu mir einen Job. Was mich wieder zu meinem eigentlichen Problem bringt, ich brauche einen Plan. Cupcake flitzt aufgeregt durch die Küche, ich lasse ihn kurz alleine um meinen Laptop zu holen.
»Scheiße«, fluche ich, als ich mit besagtem Brownie zusammenstoße, der gerade aus seinem Zimmer tritt, das natürlich genau neben meinem liegt.
»Nicht so stürmisch!« Ich bin gerade wirklich nicht in Stimmung für seine Spielchen. Er sieht mich skeptisch von oben bis unten an. Er knöpft gerade sein Hemd zu und die gebräunte Haut, auf die ich freien Blick habe, schreit regelrecht nach Beachtung. Wie gebannt sehe ich dabei zu, wie er einen Knopf nach dem anderen schließt.
»Du starrst schon wieder.«
»Ja verdammt James, dann renn doch nicht ständig nackt durch die Wohnung. Was machst du überhaupt hier, musst du nicht arbeiten oder so?«, ich warte seine Antwort gar nicht erst ab und verschwinde in meinem Zimmer. Ich will gar nicht wissen, was er mit Miss Pixicut veranstaltet hat. Die Tatsache, dass er halbnackt aus dem Schlafzimmer kommt, sagt mehr, als ich wissen muss.