LESEPROBE

Golden Goal - Kyle & Jolee

 

KYLE

 

 In dem Moment, als der Coach mich nach dem Training in sein Büro zitiert, weiß ich, dass ich ein Problem habe. Es gibt genau zwei Dinge, die er voraussetzt. Erstens: hundert Prozent auf dem Fußballfeld abliefern und zweitens: den Abschluss an der UVa schaffen. Denn nicht jedem gelingt der Sprung in die Profiliga und er lässt keine Möglichkeit aus, uns das unter die Nase zu reiben. Meine Noten haben in den letzten Wochen eine mächtige Talfahrt hingelegt. Mir ist etwas mulmig zumute, als ich an die offene Tür zu seinem Büro klopfe.

 »Kyle.«

 »Sie wollten mich sprechen, Coach?« Für einen Augenblick habe ich die Hoffnung, Nick hätte sich verhört, als er meinte, Coach Marten will mit mir reden, doch er deutet auf den leeren Stuhl vor seinem Schreibtisch.

 »Setz dich.« Sein Gesicht zeigt keine Regung, die mir verraten könnte, wie schlimm es werden wird. Aber das muss es nicht, ich weiß es auch so. Der Coach fasst niemanden mit Samthandschuhen an. Das ist mein drittes Jahr in dieser Mannschaft und er hat mindestens ein Dutzend Spieler aus dem Team geworfen, weil sie die Anforderungen nicht erfüllt haben. Fliegt einer, stehen zehn andere auf der Matte, die ihre Chance wittern. Und im Augenblick führe ich die Abschussliste an.

 »Du weißt, warum ich dich hergebeten habe?« Als Antwort nicke ich. Mein Magen zieht sich schmerzlich zusammen. Zwar habe ich befürchtet, dass es darum gehen könnte, trotzdem war da die Hoffnung gewesen, er hätte mich aus einem anderen Grund in sein Büro gebeten. »Ich mache es kurz und rede gar nicht erst um den heißen Brei herum. Gibt es einen Grund, warum deine Noten in diesem Semester deutlich schlechter sind?«

Gibt es den? Ich wünschte, ich hätte eine passende Ausrede parat, aber die habe ich nicht. Das Pensum ist straff, aber durchaus machbar. »Um ehrlich zu sein, nein. Coach, ich knie mich rein, versprochen.«

Coach Marten lehnt sich in dem schweren Ledersessel zurück und verschränkt seine Hände hinter dem Kopf. Er mustert mich und denkt nach. Das ist gut, denn das bedeutet, dass er noch keine Entscheidung über meinen Verbleib im Team getroffen hat. »Kyle, als Teamcaptain musst du mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn du das College schleifen lässt und ich dich damit durchkommen lasse, dann wirft das weder ein gutes Bild auf mich, noch auf dich. Die anderen werden nachziehen und das College ebenfalls vernachlässigen, weil sie denken, ich würde auch bei ihnen nachsichtig sein. Du bist der beste Innenverteidiger, den wir seit Jahren haben, aber das ist kein Garant dafür, dass du es auch zu den Profis schaffst. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber der Traum von der großen Karriere kann verdammt schnell vorbei sein.«

 »Ich weiß«, antworte ich kleinlaut. »Ich organisiere mir eine Nachhilfe und in ein paar Wochen sind meine Noten wieder im Lot.«

 »Du hast Glück, dass ich dich wirklich mag und es mir nicht leisten kann, dich auf die Bank zu setzen, wenn wir die Meisterschaft gewinnen wollen.«

Er wirft mich nicht aus dem Team. Die Anspannung kriecht aus meinem Körper und ich atme erleichtert auf. Fußball ist nicht nur eine Leidenschaft, sondern der Grund, warum ich es überhaupt an die UVa geschafft habe. Das Sportstipendium deckt meine Studiengebühren, die wir uns nie hätten leisten können.

 »Danke, Coach.« Mit einem Nicken deutet er auf die Tür und entlässt mich somit aus unserem Gespräch. Bevor er es sich anders überlegt, stehe ich auf und verlasse das Büro.

 »Kyle?«, ruft er mir nach und ich stecke den Kopf durch die offene Tür. »Lass es mich nicht bereuen, dir eine zweite Chance gegeben zu haben.«

 »Das werden Sie nicht.« Ein minimales Lächeln erscheint auf seinen Lippen, bevor er sich den Unterlagen auf seinem Schreibtisch widmet und ich endgültig das Weite suche. Das Handy in meiner Tasche vibriert, ich fische es heraus und lese die Nachricht.

 

Nick: Warte vor den Umkleidekabinen auf dich.

 

 »Und, wie ist es gelaufen?«, fragt er kaum, dass ich um die Ecke gebogen bin.

 »Er hat mich nicht aus dem Team geworfen.«

 »Hat er nicht?« Die Verwunderung steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

 »Nein, allerdings brauche ich dringend jemanden, der mir Nachhilfe gibt«, seufze ich. Grundsätzlich ist es kein Problem, einen der Streber dafür anzuhauen, aber unser Trainingsplan ist so engmaschig, dass ich keine Ahnung habe, wo genau ich auch noch Nachhilfestunden unterbringen soll. Im Augenblick könnte ich mir wirklich in den Arsch beißen, dass ich einen Großteil der Vorlesungen habe sausen lassen, um mit den Jungs abzuhängen.

 »Sorry Mann, aber ich bin in sowas nicht besonders gut. Meine Noten sind gerade so im grünen Bereich, weil ich meine Hausarbeiten nicht selbst schreibe.«

Eine Option, die unter uns Sportlern sehr beliebt ist, aber für mich nicht infrage kommt. Was nicht daran liegt, dass ich es moralisch verwerflich finde, sondern, dass ich es mir finanziell einfach nicht leisten kann. Für einen Nebenjob fehlt mir genauso die Zeit, wie für die Nachhilfestunden, die ich nun dringend benötige.

 »Schon gut. Ich werde jemanden finden, der mir unter die Arme greift.«

 »Ich höre mich mal bei den Strebern um. Fahren wir noch zum Diner und holen uns ein paar Burger?« Nick liebt ungesundes Essen mindestens genauso wie Fußball. Ich kenne niemanden, der solche Unmengen an Fastfood in sich hineinschaufeln kann und trotzdem so aussieht. Drei Trainingseinheiten pro Tag verbrennen zwar einiges an Kalorien, aber sie bewirken keine Wunder, wenn man den dazugehörigen Ernährungsplan ignoriert. Nick schiebt es auf einen guten Stoffwechsel, ich auf seinen ausschweifenden Lebenswandel, der zusätzliche Kalorien verbrennt.

 »Klar.«

 »Das wollte ich hören.« Er grinst zufrieden, als wir gemeinsam den Weg zum Parkplatz einschlagen. Nick öffnet die hintere Tür meines Jeeps und wir werfen unsere Sporttaschen auf die Rückbank. Wie immer sind wir die Letzten, die das Trainingsgelände verlassen.

 

Während Nick im Diner auf unsere Bestellung wartet, sitze ich im Wagen und überlege fieberhaft, wer als Nachhilfelehrer infrage kommt. In Gedanken gehe ich die einzelnen Sitzreihen meiner Kurse durch. Der Nachteil, zu einem der Sportteams der UVa zugehören, ist, dass sich die sozialen Kontakte fast ausschließlich innerhalb der Mannschaft bewegen. Mit Nick teile ich mir seit dem zweiten Semester eine Wohnung, die genau zwischen Campus und Trainingsgelände liegt. Einer seiner Mitbewohner war ausgezogen und ich habe die Chance sofort ergriffen. Mein damaliges WG-Zimmer war zwar günstig gewesen, aber dafür zu weit entfernt. Kurze Wege bei einem engen Zeitplan sind der reinste Segen.

 »So, kann losgehen.« Nick klettert auf den Beifahrersitz und sofort stinkt der Wagen wie ein billiger Imbiss.

Ich werfe einen Blick auf die vier Tüten und runzle die Stirn. »Hast du noch jemanden zum Essen eingeladen?«

 »Hä? Warum?«

 »Weil auf deinem Schoß Proviant für ein ganzes Footballteam steht.« Selbst für ihn ist diese Menge an Essen weit über dem Normalmaß, das er sonst ordert.

 »Als ob ich jemals einen Footballspieler über unsere Türschwelle lassen würde«, schnaubt er. Stimmt. Footballer sind bei Nick so beliebt wie vegetarisches Essen. Der Quarterback des Highschoolteams hatte ihm seine erste Freundin ausgespannt. Etwas, das sein Ego nie ganz überwunden hat. Eine Geschichte, über die er ungern spricht. Mehrmals hatte ich versucht, die Details aus ihm herauszuquetschen, vergeblich. Der Kerl ist nicht nur stur, sondern schweigt auch noch wie ein Grab.

 »Ich habe übrigens nachgedacht und ich glaube, ich habe eine Lösung für dein Problem.« Nick ist mein bester Freund, aber für gewöhnlich sorgen seine Ideen dafür, dass wir in Schwierigkeiten geraten. Trotzdem bin ich im Augenblick für jede Hilfe dankbar.

 »Ich bin ganz Ohr.«

 »Joe ist die Lösung für dein Problem.«

 »Joe?« Wer zur Hölle ist Joe?

 »Ja, was glaubst du denn, wer meine Hausarbeiten schreibt. Warte, ich kläre das kurz ab.« Im nächsten Augenblick hält er sich sein Handy ans Ohr. Warum habe ich das Gefühl, dass ich wissen sollte, wer Joe ist?

Als ich den Jeep auf einem der Parkplätze vor unserem Wohnhaus einparke, diskutiert Nick lautstark mit Joe, der wenig Interesse daran zu haben scheint, mir Nachhilfe zu geben. Bevor ich aussteige, drückt mir Nick zwei der vier braunen Papiertüten in die Hand und springt aus dem Wagen. 

 »Ich bitte dich doch nur um einen Gefallen und nicht um deine Ersparnisse ... Mach kein Drama draus ... Weil er mein Freund ist?!« Schweigend laufe ich neben ihm her.

Während wir die drei Stockwerke Stufe für Stufe nach oben steigen, redet Nick immer noch auf Joe ein.

 »Boah Joe, du sollst nicht seine Hausarbeiten schreiben, sondern ihm Nachhilfe geben ... Was meinst du damit, was für dich dabei herausspringt?« Vielleicht sollte er es lassen. Sein Engagement in allen Ehren, aber ich will ihm nicht die Quelle für seine Hausarbeiten vergraulen. Er eilt in die Wohnung, stellt das Essen auf dem Schuhschrank ab, hebt kurz entschuldigend die Hand und verschwindet in seinem Zimmer.

Ich greife nach den beiden Tüten und bringe sie alle in die offene Küche, die an das Wohnzimmer grenzt. Und dann warte ich darauf, dass Nick zurückkommt. Gedanklich wäge ich meine Möglichkeiten ab, sollte er keinen Erfolg bei Joe haben. Im Augenblick habe ich wenig Hoffnung, dass Nick diese Debatte gewinnen wird.

 

Fünf Minuten später höre ich, wie sich seine Zimmertür öffnet. Zufrieden grinsend betritt er die Küche, auch wenn er aussieht, als hätte er sich bis zur Verzweiflung die Haare gerauft.

 »Alles klar. Du hast morgen Mittag mit Joe ein Date im Barneys.«

 »Okay«, ist alles, was ich dazu sagen kann, weil mich eine Ahnung beschleicht, dass das eine wirklich beschissene Idee ist. Ich will ihn gerade danach fragen, wer Joe ist, aber er hat sich bereits eine der Tüten geschnappt und fährt die Playstation hoch.

 »Du schuldest mir eine Revanche!«, ruft er vom Sofa, das keine drei Meter von der Küchennische entfernt steht, und wirft mir einen Controller zu.

 »Du weißt, dass du keine Chance hast. Also warum blamierst du dich jedes Mal freiwillig bis auf die Knochen?«, ziehe ich ihn auf. Nick ist ein fantastischer Torwart auf dem Feld, aber ein miserabler Spieler auf der Playstation.

 »Eines Tages ziehe ich dir die Hosen aus, Blackmoore.«

Lachend setze ich mich zu ihm. »In deinen Träumen, Mitchell«, antworte ich und starte FIFA.

Vielleicht lasse ich ihn heute ausnahmsweise gewinnen.

 

 »Wie erkenne ich Joe?«, frage ich Nick am nächsten Morgen, als er mal wieder viel zu spät aus der Wohnung stürmen will. Meine Vorlesung beginnt erst in einer Stunde.

 »Joe wird sich schon bemerkbar machen. Viel Erfolg und sei nett.« Sein breites Grinsen lässt bei mir alle Alarmglocken schrillen. Bevor ich antworten kann, fällt die Tür bereits ins Schloss.

Ich trinke meinen Proteinshake aus und springe unter die Dusche. Eine halbe Stunde später stehe ich etwas planlos vor dem Kleiderschrank. Das Letzte was ich will, ist, wie einer dieser überheblichen Sportler rüberzukommen. Ein Blick in den Spiegel und ich muss lachen. Verdammt, das ist kein Bewerbungsgespräch. Das gestreifte Hemd landet auf dem Klamottenhaufen neben meinem Bett. Am Ende trage ich das, worin ich mich am wohlsten fühle. Jeans, T-Shirt und einen Hoodie mit einem orangefarbenen V und zwei gekreuzten Säbeln darauf. Unser Mannschaftslogo.

 

Den Großteil der Vorlesung verbringe ich damit, gedankenverloren auf einem Bleistift herumzukauen. Wenn Joe ablehnt, brauche ich eine Alternative. Mein Blick schweift durch den Hörsaal und ich stelle fest, dass ich keine Ahnung habe, wer in diesem Kurs zu den Besten gehört. Vielleicht die in der ersten Reihe? Ich sitze in der letzten, was allerdings nur daran liegt, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn sich Blicke in meinen Rücken bohren oder hinter mir getuschelt wird. Als der Dozent die Vorlesung endlich beendet, springe ich auf und haste die Treppen nach unten, dabei remple ich jemanden an. Ich murmle eine kurze Entschuldigung, während die Blondine leise flucht und ihre Sachen vom Boden aufsammelt. Wenn ich nicht mit Joe verabredet wäre, hätte ich ihr dabei geholfen, aber ich will auf keinen Fall zu spät kommen.

 

Wie sich später herausstellt, hätte ich mich gar nicht so beeilen müssen, denn ich sitze seit zehn Minuten im Barneys, das sich direkt auf dem Campus befindet, und warte auf Joe. Fast alle Tische waren bei meiner Ankunft belegt gewesen, aber an keinem saß ein einzelner Kerl. Also hatte ich mich an einen der leeren Tische gesetzt und mir etwas zu trinken bestellt. Die Tür fest im Blick mustere ich jede Person, die das kleine Café betritt. Was sinnlos ist, wenn man nicht weiß, nach wem man eigentlich Ausschau hält. Nach weiteren zehn Minuten bin ich mir sicher, dass Joe nicht mehr kommen wird. Ich hätte Nick nach seiner Telefonnummer fragen sollen.

Die Tür schwingt auf und eine Blondine mit einer runden Brille auf der Nase sieht sich suchend um. Kurz bleibt ihr Blick an mir hängen und im nächsten Augenblick dreht sie sich um und verschwindet wieder durch die Tür. Sie läuft ein paarmal vor dem Schaufenster auf und ab, bevor sie ihr Handy aus der Gesäßtasche zieht. Keine Ahnung, warum ich sie beobachte, aber mein Anblick schien sie in die Flucht geschlagen zu haben. Normalerweise ist die entgegengesetzte Reaktion der Fall. Frauen rennen mir eher nach, statt vor mir davon. Wild gestikulierend telefoniert sie und wirft immer wieder einen Blick durch das Schaufenster und schüttelt den Kopf. Okay, das ist eindeutig merkwürdig. Ich greife nach meinem Handy, das auf dem Tisch liegt, und rufe Nick an. Besetzt. Wieder sehe ich zu der Blondine, die inzwischen so aussieht, als würde sie dringend jemanden durch den Fleischwolf drehen wollen. Sie trägt ein Sweatshirt mit einem verwaschenen Aufdruck, eine schwarze Jeans und Chucks. Ihr Pferdeschwanz wippt von rechts nach links, während sie wieder vor dem Schaufenster auf und ab läuft. Erneut wähle ich die Nummer von Nick und bleibe erfolglos. Joe ist bereits dreißig Minuten zu spät. Ich gebe der Kellnerin ein Zeichen, dass ich bezahlen möchte, und schicke Nick eine kurze Nachricht, dass Joe mich versetzt hat.

 

JOLEE

 

»Vergiss es Nick, ich mache das nicht.« Der hat sie doch nicht alle. Ausgerechnet Kyle Blackmoore. Nur über meine Leiche. Ich hätte wissen müssen, dass an der Sache etwas faul ist, als er mich mit der vagen Äußerung, dass es sich um seinen Mitbewohner handelt, abgespeist hat. Der Groschen ist allerdings sofort gefallen, als ich Mister Supersportler alleine an einem Tisch entdeckt habe. Typen wie er sitzen nicht mutterseelenallein in einem Café, um eine Tasse Kaffee zu genießen. Sie kommen im Rudel und verschlingen alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

 »Komm schon Joe, stell dich nicht so an.«

 »Ich stelle mich nicht an! Ich habe einfach keinen Bock auf den Typen. Du hast gesagt, ich soll deinem Mitbewohner helfen.« Und das ist mein völliger Ernst. Mit der Riege der Sportler will ich nichts zu tun haben. Wäre ich nicht mit Nick verwandt, würde ich selbst um ihn einen Bogen machen. Die Intelligenz dieser Kerle reicht gerade einmal von der Wand bis zur Tapete und trotzdem denken sie, sie sind der Nabel der Welt. Von allen Seiten werden sie angehimmelt, was ihnen ein Ego verpasst, das bei mir Brechreiz verursacht.

 »Er ist mein Mitbewohner! Hast du ernsthaft gedacht, dass ich mir mit einem Typen die Bude teile, der nicht in meinem Team ist?« Keine Ahnung, was ich gedacht habe. Mein Gehirn hat die Verknüpfung von Zusammenhängen vermutlich während unseres Telefonats eingestellt.

Ich stoße laut die Luft aus, weil er damit nicht ganz unrecht hat und ich es eigentlich hätte wissen müssen, dass es darauf hinauslaufen wird.

 »Kyle braucht wirklich deine Hilfe.« Wie sehr ich es hasse, wenn er diesen Ton anschlägt. Nick ist zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber er weiß ganz genau, wie er die Menschen um den Finger wickeln muss, damit er seinen Willen bekommt.

 »Er soll eines seiner Groupies fragen, die helfen ihm bestimmt gerne«, antworte ich zynisch, weil das hier völlig absurd ist. Genau wie die Tatsache, dass meine Mitbewohnerin Bree nach meinem Einzug eine Top Ten Liste der heißesten Typen an den Kühlschrank gehängt hat. Inklusive Fotos. Unter anderem eins von Kyle. Nur deshalb weiß ich überhaupt, wie er aussieht.

 »Verdammt Joe, wir sind nicht mehr auf der Highschool. Kyle ist kein Arschloch, das schwöre ich.« Was soll er auch sonst sagen, eine Krähe kratzt bekanntlich der anderen kein Auge aus.

 »Du ziehst wirklich die Highschool-Karte? Ich hasse dich.« In der Highschool war ich das beliebteste Opfer für diese Schwachmaten gewesen. Die Brillenschlange mit den guten Noten, die den Vorsitz im Debattierclub hatte, war ein gefundenes Fressen für die Typen aus dem Fußballteam und ihre Cheerleader. Inzwischen trage ich meine Brille nur noch, wenn mir die Kontaktlinsen ausgehen. So wie heute. Ständig rutscht sie auf meiner Nase nach vorne und treibt mich in den Wahnsinn.

 »Nein, tust du nicht. Ich bin dein Bruder. Und jetzt benimm dich wie eine Erwachsene und geh in das Café.«

 »Ich schwöre dir, dafür wirst du teuer bezahlen.« Im nächsten Moment lege ich auf. Das werde ich so was von bereuen. Ich straffe die Schultern und betrete zum zweiten Mal das Barneys. Diesmal gehe ich allerdings direkt auf Kyle zu.

 »Sorry, kein Interesse«, sagt er, kaum dass ich an seinem Tisch stehe.

Wie bitte? Hält er mich für eines seiner Groupies? Soviel zu: kein Arschloch ...

 »Gut, da sind wir uns ja einig.« Überrascht sieht er zu mir auf. Eines muss man Kyle Blackmoore lassen, die tiefblauen Augen, die an den Atlantik erinnern, haben es in sich.

 »Und wie kann ich dir dann helfen?« Spinne ich oder wirkt sein Lächeln tatsächlich etwas verlegen?

 »Die Frage ist eher, wie ich dir helfen kann.« Ich setze mich auf einen der freien Stühle und sehe Kyle über den Tisch hinweg an.

 »Wie bitte?« Durch seine Frage merke ich, dass er keine Ahnung hat. Nick hat ihn also, genau wie mich, im Dunklen tappen lassen. Warum er das bei mir getan hat weiß ich, warum er ihm nichts gesagt hat, wüsste ich wirklich gerne.

 »Nick meinte, du brauchst Hilfe.«

 »Du bist Joe?« Sein Gesichtsausdruck wandelt sich von überrascht zu entsetzt.

 »Hast du jemand anderen erwartet?« Hat Nick mich etwa nie erwähnt? Okay, unser Verhältnis ist vielleicht nicht das Innigste, aber er wird doch mal über mich gesprochen haben, oder?

 »Ja, irgendwie schon.« Er lächelt entschuldigend.

Kann er das bitte lassen! Die Nummer zieht bei mir nicht. Die Kellnerin kommt an den Tisch und sieht zwischen uns hin und her. Sie versucht gar nicht erst zu verbergen, was sie in diesem Augenblick denkt. Was will ein Typ wie er von einem Mädchen wie mir.

 »Willst du immer noch bezahlen?«, fragt sie ihn zuckersüß und ich kann nicht verhindern, dass ich genervt die Augen verdrehe. Kyle bemerkt es und ein Schmunzeln liegt auf seinen Lippen. Notiz an mich selbst: Kyle hat einen verdammt schönen Mund.

 »Nein. Joe, was möchtest du trinken?«

 »Einen Schokomilchshake, bitte«, antworte ich ganz automatisch, auch wenn ich mich auf keinen Fall von ihm einladen lasse.

 »Okay, Blackmoore«, beginne ich und ziehe ein Notizbuch aus meiner Tasche. »Wo genau brauchst du Hilfe?«, komme ich gleich zum Punkt, weil ich nicht mehr Zeit als nötig mit ihm verbringen will.

 »Überall?« Ist das eine Frage? Aus zusammengekniffenen Augen sehe ich ihn an, was dafür sorgt, dass meine Brille ein Stück nach vorne rutscht. Mit dem Zeigefinger schiebe ich sie zurück. Schon wieder dieses unterschwellige Schmunzeln. »Also amerikanische Geschichte und Politik sind wohl am dringendsten. Aktuell falle ich in beiden Fächern durch.«

 »Gut. Ich brauche deinen Kurs- und Trainingsplan. Und damit eines klar ist, ich werde auf keinen Fall deine Hausarbeiten schreiben. Nur, falls dir Nick da falsche Hoffnungen gemacht hat.«

Die Kellnerin stellt meinen Milchshake vor mir ab, während Kyle in seinem Rucksack herumkramt und sie keines Blickes würdigt. Als er endlich gefunden hat, wonach er sucht, schiebt er mir zwei Zettel über den Tisch. Grob notiere ich mir die Zeiten, in denen er Vorlesungen und Training hat. Wow, hat der Kerl überhaupt Freizeit? Wann bitte will er lernen? Nachts?

 »Darf ich dich etwas fragen?« Über den Rand meiner Brille hinweg sehe ich zu ihm auf, als er nicht weiterspricht. »Du magst mich offensichtlich nicht besonders, also warum hilfst du mir?«, fragt er vorsichtig.

 »Weil mein Bruder mir sonst ewig vorhalten wird, dass du nur aus dem Team geflogen bist, weil ich dir nicht helfen wollte und ihr deswegen die Meisterschaft verloren habt. Wenn das die Runde macht, werde ich vermutlich mit den Füßen voran an einen Fahnenmast gehängt.«

Er lacht laut. Weitere Notiz an mich selbst: Kyle Blackmoore hat das aufrichtigste Lachen, das ich jemals gehört habe.

 »Du bist Nicks kleine Schwester? Ich weiß nicht, ob ich überrascht oder entsetzt bin.«

Auf dieses Thema gehe ich nicht weiter ein. Smalltalk über meine Familie mit Kyle Blackmoore steht nicht wirklich auf der To-do-Liste.   »Wir haben einige Kurse zusammen, das macht es einfacher, was den Stoff betrifft.«

 »Warte, du bist in meinen Kursen? Warum habe ich dich noch nie gesehen?« Neugierig mustert er mich, als überlege er, ob er mich vielleicht doch kennt.

 »Ich habe erst vor ein paar Wochen an die UVa gewechselt.« Das ist nicht gelogen, aber selbst, wenn es nicht so wäre, bin ich mir sicher, dass er mich niemals bemerkt hätte. Denn sobald Kyle einen Raum betritt, bildet sich eine Menschentraube um ihn herum. Einer, der ich fern bleibe. Ich schreibe meine Telefonnummer auf eine leere Seite und reiße sie aus dem Notizbuch. »Hier. Nur für den Notfall.«

 »Darf ich?« Er deutet auf den Stift in meiner Hand und schnappt ihn sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Im nächsten Moment schiebt er eine Serviette mit seiner Handynummer über den Tisch. »Nur für den Notfall«, wiederholt er meine Worte und zwinkert mir zu.

 »Ich denke, morgen Abend gegen acht Uhr würde passen. Oder bist du da noch nicht vom Training zurück?« Kurz sehe ich zu ihm auf, als er nicht direkt darauf antwortet.

 »Nein, das bekomme ich hin. Wo wollen wir uns treffen?« Sein Handy klingelt. Kurz sieht er auf das Display, bevor er den Anruf wegdrückt. Das macht ihn tatsächlich etwas sympathisch.

 »Ich komme zu euch«, antworte ich knapp. Auf keinen Fall will ich, dass wir ständig zusammen gesehen werden und damit etwas ins Rollen bringen, das peinlich enden könnte.

 »Weißt du denn, wo wir wohnen? Ich frage nur, weil du noch nie bei uns warst.«

 »Ja, ich kenne die Adresse.« Ein einziges Mal war ich in der Wohnung gewesen und das war, als meine Eltern mich dazu gezwungen hatten, Nick bei seinem Umzug nach Virginia zu helfen. Und zu diesem Zeitpunkt stand definitiv nicht der Name Blackmoore auf der Klingel. Er muss also erst später eingezogen sein.

Seine ozeanblauen Augen bohren sich in meine, als würde er darin nach Antworten auf seine unausgesprochenen Fragen suchen. Wer bist du? Wo kommst du so plötzlich her? Und warum hat Nick nichts von dir erzählt? Jedenfalls wären das die Fragen, die ich ihm stellen würde, wenn ich in seiner Situation wäre.

 »Bevor ich es vergesse. Es gibt ein paar Bedingungen«, unterbreche ich die Stille und den Blickkontakt, der für meinen Geschmack etwas zu intensiv ist.

 »Bedingungen?« Fragend zieht er eine Augenbraue hoch. Ich ignoriere es und fahre unbeirrt fort.

 »Wir sind keine Freunde. Also versuch gar nicht erst so zu tun, als wären wir es. Außerhalb unserer Treffen reden wir nicht miteinander. Wir lernen bei euch. Wenn du mich versetzt oder meine Zeit verschwendest, war's das, dann bin ich raus.« Kyle sieht so aus, als denke er über meine Worte nach. Was gibt es daran bitte nicht zu verstehen? Ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt.

 »Wow, du bist die erste Frau, die nicht mit mir gesehen werden will.« Ist das alles, was bei ihm angekommen ist? 

Wieder umspielt ein leichtes Schmunzeln seine Mundwinkel. Sicher kann er damit Frauen reihenweise die Höschen ausziehen, bei mir beißt er allerdings auf Granit. Eher schnalle ich mir einen Keuschheitsgürtel um, als meine Unterwäsche an ihn zu verlieren.

 »Ich bin keins deiner Groupies, okay?« Ohne ihn anzusehen, packe ich das Notizbuch wieder ein.

 »Nein, das bist du ganz offensichtlich nicht und das gefällt mir.« Mein Kopf schnellt herum und ich starre ihn verdutzt an. Zufrieden grinst er vor sich hin.

Wie bitte? Der verarscht mich doch!

 »Morgen, acht Uhr!«, erinnere ich ihn, lege vier Dollar auf den Tisch und lasse ihn alleine im Café sitzen.

Ich werde Nick umbringen.

 

»Hey, ich bin wieder da.«

Bree wirft einen Blick über ihre Schulter. Auf dem Fernseher läuft eindeutig eine Folge von Game of Thrones. »Warum siehst du aus, als hätte dich jemand in den Mixer gesteckt?«

 »Der Vergleich ist gar nicht so falsch«, stöhne ich frustriert und setze mich zu ihr auf die Couch.

 »Ist es nicht so gut gelaufen?« Nach dem gestrigen Telefonat mit Nick musste ich mich direkt bei Bree auskotzen.

 »Ich sage nur, Kyle Blackmoore.«

 »Kyle Blackmoore, was ist mit ihm?«, fragt sie, weil sie eins und eins ganz offensichtlich nicht zusammenzählen kann. Was mich wundert, denn für gewöhnlich ist Bree verdammt clever. Vermutlich ist sie von dem halbnackten Typen auf dem Fernsehbildschirm etwas abgelenkt.

 »Ausgerechnet ihm soll ich Nachhilfe geben«, antworte ich, ziehe die Beine an und umschlinge sie mit den Armen.

Bree drückt auf die Pause-Taste und schaut mich verwundert an. »Der ist doch süß, wo ist das Problem?«

Süß? Kyle Blackmoore ist nicht süß. Babys sind süß oder Hundewelpen, aber nicht Fußballer mit einem Ego so groß wie Virginia.

 »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

 »Kennst du ihn denn?« Meint sie die Frage ernst?

 »Ich muss ihn nicht kennen, um zu wissen, dass ich nichts mit ihm zu tun haben möchte.«

 »Dann lass es.«

 »Schön wär's. Nick dreht mir den Hals um, wenn Kyle aus dem Team fliegt. Wie viele Studenten hat die UVa, zwanzigtausend? Warum muss ausgerechnet ich ihm den Arsch retten?« Ich lasse die Stirn auf meine Knie sinken.

 »Denk positiv, es hätte ein Footballer sein können. Die sind noch beliebter«, versucht Bree mich aufzubauen.

 »Von mir aus könnte Blackmoore auch Ballett tanzen. Sportler bleibt Sportler.«

 »Du solltest nicht alle über einen Kamm scheren. Vielleicht ist er gar nicht so übel.«

Dank Nick bin ich unter diesen Idioten aufgewachsen. Ja, ich bin voreingenommen, aber ich habe einiges an Erfahrung vorzuweisen. Genervt verdrehe ich die Augen.

 »Ich war auch ein Cheerleader in der Highschool und mich magst du.«

Bree kenne ich erst, seit ich an die UVa gewechselt bin. Sie hat eine Mitbewohnerin gesucht und ich brauchte dringend ein Zimmer. So kurz vor Semesterbeginn war es so gut wie unmöglich, eine Bleibe zu finden. Hätte ich gewusst, dass sie eine ehemalige Cheerleaderin ist, hätte ich lieber in einem Zelt auf dem Campus kampiert. Dass sie früher die Pompons geschwungen und Schlachtrufe gebrüllt hat, hat sie mir erst erzählt, als ich meine Abneigung gegenüber Sportlern erwähnt habe. »Die Betonung liegt auf: warst«, grinse ich sie an.

 »Und wann triffst du dich mit unserem Fußballgott?«, will sie wissen.

 »Morgen Abend, vorausgesetzt er meint es wirklich ernst, dass er seine Noten verbessern will. Aber können wir bitte das Thema wechseln, damit sich mein Blutdruck allmählich wieder beruhigt?«

Bree lacht. »Wir können auch ein paar Folgen Game of Thrones schauen?«

 »Bloß nicht. Ich bin sehr stolz darauf, dass dieser Trend an mir vorbeigegangen ist. Wie wäre es mit Gilmore Girls?«

Bree wirft mir die Fernbedienung zu. »Ich hole die Eiscreme.«

Eine hervorragende Idee.

 

 KYLE

 

»Joe ist also deine Schwester«, sage ich schweratmend zu Nick, als der Coach das Ausdauertraining beendet.

 »Ja, habe ich das nicht erwähnt?«

Stellt er sich absichtlich dumm? Natürlich hat er das nicht erwähnt. Nick ist nicht der Typ, der gerne über seine Familie spricht, aber eine kurze Info wäre wirklich nett gewesen. Immerhin sind wir beste Freunde, da sollten doch wenigstens die grundlegendsten Dinge klar sein.

 »Nein, ich wusste nicht einmal, dass du eine Schwester hast. Ich dachte, Joe ist ein Kerl!«

Lachend schüttelt er den Kopf. »Manchmal denke ich auch, dass sie einer ist.«

 »Findest du das witzig? Ich habe vor ihr gesessen wie ein Trottel, weil ich keine Ahnung hatte.«

 »Na und? Sie hält dich sowieso für einen«, antwortet er schulterzuckend.

 »Sie kennt mich doch gar nicht«, werfe ich ein. Dass sie mich nicht mag, ist mir ziemlich schnell klar gewesen. Warum das so ist, verstehe ich allerdings nicht.

 »Nimm es nicht persönlich. Sie mag Sportler einfach nicht. Sie hat sich bereits auf der Highschool in den Kopf gesetzt, dass wir alle oberflächliche Arschlöcher sind.«

 »Aber du bist ihr Bruder«, werfe ich ein.

 »Deswegen bekomme ich bei ihr noch lange keinen Ehrenplatz. Und glaub mir, ich war wirklich ein Idiot in der Highschool. Es ist verdammt uncool, wenn deine zwei Jahre jüngere Schwester in der gleichen Jahrgangsstufe ist.«

 »Warum hast du mir nichts von ihr erzählt?« Wir machen noch ein paar Dehnübungen, während die anderen bereits den Platz verlassen.

Schulterzuckend wendet er sich mir zu. »Keine Ahnung. Joe legt keinen großen Wert auf meine Gesellschaft. Sie schreibt seit dem ersten Semester die Hausarbeiten für mich und knöpft mir dafür einen Haufen Kohle ab. Soviel zu Geschwisterliebe. Sie ist kratzbürstig, aber auch verdammt clever. Wenn dir jemand den Stoff in den Kopf prügeln kann, dann sie. Aber stell dich darauf ein, dass der Coach gegen meine Schwester ein frommes Lamm ist.«

Das klingt nach rosigen Zeiten. Aber jemand, der mir den Bauch pinselt, wäre auch wenig hilfreich.

 »Warum hat sie die Uni gewechselt?«

 »Was weiß ich. Joe ist nicht gerade ein offenes Buch. Sie meinte nur, Stanford ist nicht so cool, wie sie angenommen hat. Unsere Eltern haben fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie uns das bei Dads Geburtstag einfach so um die Ohren gehauen hat. Warum sie sich ausgerechnet für die UVa entschieden hat, ist mir allerdings schleierhaft.«

Stanford. Kein Wunder, dass sie uns für Idioten hält.

 »Kommst du?«, ruft Nick, als ich ihm nicht folge.

Ich eile ihm nach und gemeinsam betreten wir die Umkleidekabine. Ein Teil der Jungs ist bereits verschwunden oder duschen. 

 

 »Hey Blackmoore!« Im nächsten Moment landet ein feuchtes Handtuch in meinem Gesicht. Mit einer geschickten Bewegung schleudere ich es in Sams Richtung, der splitterfasernackt in der Umkleidekabine steht.

 »Werd erwachsen«, zische ich ihn an und schließe meinen Spind auf.

 »Wo sind die anderen?«, fragt Nick und sieht Phoenix fragend an, der auf einer der Holzbänke sitzt und auf seinem Smartphone herumtippt.

 »Mase und Jay sind schon zur Teambesprechung und River duscht gefühlt seit Stunden«, antwortet er, ohne von seinem Telefon aufzusehen. Nick, Phoenix, River, Jay und Mase sind das, was ich als meinen inneren Kreis bezeichnen würde. Meine Freunde. Alle anderen gehören nur demselben Team an und scharren sich eher um Sam, der ein Vollidiot ist. Als River in die Umkleide tritt, springt Phoenix sofort auf. »Alter, hast du die Seife in der Dusche fallen lassen, oder was hat da so lange gedauert?«, zieht er ihn auf und schultert seine Sporttasche.

 »Neidisch, Hollywood?«, schießt er zurück und Phoenix schüttelt lachend den Kopf, bevor er ihn in den Schwitzkasten nimmt.

 »Können wir dann, der Coach wartet«, erinnere ich sie.

 

Als wir endlich in der Wohnung ankommen, ist es bereits weit nach zehn Uhr. Die Teambesprechung hatte sich ewig in die Länge gezogen. Zu Beginn der Saison ist das immer so, dann pendelt sich alles ein und die Ansprachen des Coachs werden kürzer. Die ersten Spiele sind generell eine Zerreißprobe für die Nerven, aber sobald ein Sieg eingefahren ist, entspannen sich die Gemüter.

 »Alter, ich bin völlig im Arsch. Ich hau mich hin.« Nick wirft seine Sporttasche in die Ecke und verschwindet direkt in seinem Zimmer.

Mein Blick schweift über das Chaos, das er wieder mal verursacht hat. Das dreckige Geschirr steht noch auf dem Couchtisch und die Küche gleicht einem Schlachtfeld. Die Müdigkeit steckt auch mir in den Knochen und doch räume ich die Wohnung auf und spüle das Geschirr ab. Morgen ist mein Zeitplan so engmaschig, dass dafür keine Zeit wäre, aber ich will auch nicht, dass Joe uns für schlampig hält. Auf Nick brauche ich da nicht setzen, der beseitigt nur sein Chaos, wenn ich den Stecker der Playstation ziehe und sie in meinem Zimmer einschließe. In den letzten Jahren ist das durchaus ein paarmal vorgekommen. Kurz vor Mitternacht falle ich nur noch ins Bett. In fünf Stunden klingelt der Wecker und läutet die morgendliche Trainingseinheit ein.

 

»Waren die Heinzelmännchen über Nacht da?« Nick streckt sich und schlurft direkt zur Kaffeemaschine.

 »So ähnlich«, murmle ich in meine Tasse. Ich bin völlig erledigt und frage mich, wie ich den Tag überstehen soll, ohne in einer der Vorlesungen wegzunicken. In den letzten Stunden habe ich mich mehr von einer Seite zur anderen gewälzt, als dass ich geschlafen habe. Zu viel war mir im Kopf herumgeschwirrt. Wenn Joe heute nicht auftaucht, bin ich aufgeschmissen. In meiner Verzweiflung habe ich tatsächlich darüber nachgedacht, einen Zettel ans schwarze Brett zu hängen. Mein Hilfeschrei zwischen: Verkaufe gebrauchtes Fahrrad, und: Suchen Mitglieder für den Schachclub. Liest überhaupt jemand den Mist, der dort hängt?

 »Sag bloß, du hast die Bude für Joe auf Hochglanz poliert?« Nick lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank und verzieht seinen Mund zu einem schelmischen Grinsen.

 »Ich dachte, es wäre gut, wenn wir nicht direkt jedes Klischee bedienen.«

 »Falls du ihr auch noch einen Kuchen backen willst, sie steht auf Cheesecake.« Macht er sich ernsthaft über mich lustig? Vielleicht sollte ich wirklich etwas zu essen besorgen? Ich bin echt schlecht in sowas. Lerngruppen waren nie mein Ding. Keine Ahnung, wie die für gewöhnlich ablaufen. Bringt da jeder etwas mit oder lernt man stupide vor sich hin?

 »Kommst du oder denkst du ernsthaft darüber nach, die Rührschüssel aus dem Schrank zu kramen?« Nick klopft mir amüsiert auf die Schulter und schlägt den Weg in Richtung Flur ein.

 »Sollte ich?«, rufe ich ihm hinterher und greife im Vorbeigehen nach meiner Sporttasche.

 »Kommt darauf an, ob du willst, dass meine Schwester dich ernst nimmt«, grinst er und steigt in seinen Land Rover. Was ist das denn für eine Antwort? Meine Tasche befördere ich zu Nicks auf den Rücksitz und rutsche auf den Beifahrersitz.

Nick haut auf die Hupe, weil ein Wagen uns am Ausparken hindert. »Fahr, du Idiot! Es gibt Leute, die vor dem Mittagessen ihr Ziel erreichen müssen.« Autofahren und Fluchen gehören bei ihm zwangsläufig zusammen. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Hunde, die bellen, beißen ja bekanntlich nicht.

 »Wenn du willst, dass Joe misstrauisch wird, back ihr einen Kuchen, denn sie wird dir nicht abkaufen, dass du einfach nur nett sein möchtest«, nimmt er unser Gespräch wieder auf. Okay, keinen Kuchen. Das wäre vielleicht wirklich etwas übertrieben.

 

»Blackmoore, soll ich dir die Grundlagen der Viererkette nochmal erklären?«, zieht Sam mich auf, als wir nach der morgendlichen Trainingseinheit den Platz verlassen.

Genervt verdrehe ich die Augen. Dabei hat er recht, meine Leistung war unterirdisch. Ein Drittel meiner Pässe sind ins Leere gelaufen. Und meine Zweikampfquote lag heute deutlich unter siebzig Prozent. Im Augenblick bin ich ganz weit davon entfernt, der beste Innenverteidiger der Collegeliga zu sein.

Amerikanische Geschichte steht für heute als Nächstes auf dem Plan. Noch etwas, was mir aktuell nicht liegt. Der Hörsaal ist bereits gut gefüllt, als ich ihn, wie immer auf den letzten Drücker, betrete. Nachdem ich ein paar Leute flüchtig begrüßt habe, von denen ich nicht einmal weiß, wie sie heißen, suche ich die Reihen nach Joe ab. Schließlich entdecke ich sie neben einer Brünetten. Ohne darüber nachzudenken, gehe ich auf sie zu und rutsche auf den Platz zu ihrer Rechten.

Ihr Kopf schnellt in meine Richtung. »Falscher Platz, Blackmoore«, zischt sie und wendet den Blick wieder ab.

Wow, sie ist wirklich ein richtiges Sweetheart. »Ich wollte nur wissen, ob ich für heute Abend etwas vorbereiten soll? Ich könnte was kochen?« Kaum kommen mir dir Worte über die Lippen, verfluche ich mich selbst. Ich bin ein Idiot!

Wieder schnellt ihr Kopf zu mir und sie sieht mich an, als würde sie mich jeden Moment lachend in eine Kreissäge schubsen wollen.  »Was genau versteht dein Spatzenhirn nicht an: keine Gespräche in der Öffentlichkeit?«

 »Du hast das ernst gemeint?«

 »Habe ich gestern etwa den Eindruck vermittelt, dass ich eine Spaßkanone bin?« Nein, ganz und gar nicht. »Hör auf damit!« Sie deutet auf meinen Mund und ich ziehe fragend eine Augenbraue nach oben. »Dieses Schmunzeln ist unangebracht.«

Leider kann ich nicht verhindern, dass besagtes Schmunzeln sich in ein breites Grinsen verwandelt. Joe schnauft und ich befürchte, dass jeden Augenblick Rauch aus ihren Ohren schießen könnte.

 »Hey, ich bin Bree. Jolee meint es nicht so«, sagt die Brünette und lächelt mich freundlich an.

Jolee ... das gefällt mir um einiges besser als Joe.

 »Doch, ich meine es genau so!«, protestiert sie.

 »Du kannst gerne hier sitzen.«

 »Nein, kann er nicht!«

 »Schon okay, ich hatte nicht vor, euch auf die Pelle zu rücken«, versuche ich die Situation zu retten, bevor Jolee Bree vermutlich vom Stuhl stößt, nur weil sie nett zu mir ist. Jolee, wie das klingt: freundlich, liebevoll, süß – leider passt es so gar nicht zu dem Mädchen neben mir.

 »Zu spät, der Prof ist gerade gekommen. Wenn du dich jetzt in die hinteren Reihen schleichst, setzt er dich vor die Tür«, seufzt sie und schiebt ihre Brille zurecht. Bree grinst zufrieden. Wenigstens sie scheint mich etwas zu mögen.

Ich ziehe einen Block aus meiner Tasche, in den ich meine Notizen zu den Vorlesungen schreibe. Ein Kugelschreiber klemmt immer griffbereit daran. Jolee schnaubt neben mir.

 »Was?«, frage ich leise und mustere sie von der Seite. Wie kann jemand, der so harmlos aussieht, so störrisch sein? Wenn sie mich nicht gerade so ansieht, als würde sie mich von einer Klippe stoßen wollen, ist sie sogar sehr hübsch. Rehbraune Augen, dichte dunkle Wimpern, eine Stupsnase, auf der ihre Brille ständig nach vorne rutscht und ein Mund der, ohne zusätzliche Betonung, Fantasien weckt. Wäre da nicht das Problem, dass dieser besagte sinnliche Mund mit Wörtern um sich schießt, die einem Maschinengewehr Konkurrenz machen.

Jolee räuspert sich. Vielleicht habe ich sie einen Augenblick zu lange angestarrt. »Ist das alles, was du dabei hast?«, fragt sie und tippt auf den Block, der vor mir liegt. Ich nicke und schaue auf ihre Seite des Tisches. Vor ihr liegen Stifte in allen möglichen Farben, Klebezettel, zwei Bücher über amerikanische Geschichte, ein dicker Ordner und ein Schreibblock. Nur um sicherzugehen, dass nicht nur ich einen einsamen Block mit mir herumschleppe, schaue ich mich auf den umliegenden Tischen um. Okay, ich bin nicht der Einzige, aber je weiter vorne man sitzt, umso mehr Equipment benötigt man offensichtlich.

 »O Mann, das wird ein ganzes Stück Arbeit, Blackmoore«, stöhnt sie und unter anderen Umständen hätte ich das tatsächlich sexy gefunden.

 »Miss Mitchell, Mister Blackmoore, langweile ich Sie mit unseren Präsidenten der letzten fünfzig Jahre?«, fragt der Prof, der plötzlich neben uns steht.

Jolee rutscht tiefer in ihren Stuhl, weil so ziemlich alle im Saal uns anstarren. Nur um sie zu ärgern, würde ich jetzt gerne meinen Arm um sie legen. Ich lasse es allerdings, denn mit ziemlicher Sicherheit würde sie mir eine Ohrfeige verpassen und ich kann zusehen, wie ich meine Noten ohne ihre Hilfe aufpoliere. »Nein Sir, ich habe meine Sitznachbarin nur um einen Textmarker gebeten.« Der Prof wirft einen Blick auf meine Notizen und verzieht kurz das Gesicht. Es ist offensichtlich, dass ich keinen Textmarker benötige, denn auf dem Papier vor mir herrscht gähnende Leere. Trotzdem lehne ich mich zu Jolee rüber und greife nach einem, dabei streift mein Oberkörper ihre Schulter. Sie zieht scharf die Luft ein und ich blicke sie fragend an. Atmet sie noch? Wieder einmal kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vielleicht kann sie mich nicht ausstehen, aber immun gegen mich ist sie definitiv nicht. »Sorry«, murmle ich und rücke von ihr ab.

 

Für den Rest der Vorlesung schweigt sie demonstrativ, aber mir entgeht nicht, dass sie mich immer wieder von der Seite mustert. Und es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, dass ich es nicht ebenfalls täte. Jedes Mal, wenn mein Blick zu ihr huscht, entdecke ich ein neues Detail an ihr. Die kleinen Löckchen, die sich in ihrem Nacken kräuseln, wie sie konzentriert auf ihrem Stift herumkaut und in regelmäßigen Abständen die Brille auf ihrer Nase wieder in Position schiebt. Immer, wenn sie in meine Richtung schaut, zieht sie nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Zwar nur minimal, aber dennoch sichtbar. Zu gerne würde ich wissen, was sie in diesen Momenten denkt. 

Als der Prof die Vorlesung beendet, springt sie von ihrem Stuhl auf, als säße sie auf heißen Kohlen. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hebt ermahnend die Hand. »Wag es ja nicht.« Und schon stürmt sie an mir vorbei.

 »Wir sehen uns um acht, Jolee!«, rufe ich ihr nach, weil ich es mir einfach nicht verkneifen kann. Als Antwort reckt sie ihren Mittelfinger in die Luft, ohne sich auch nur zu mir umzudrehen. Lachend packe ich meine Sachen zusammen. Das könnte wirklich interessant werden.