Leseprobe

yOU AN ME - DIE JÄGERIN


Kapitel 1.

 

Im letzten Jahr die Highschool zu wechseln, ist wirklich der Horror. Normalerweise. Allerdings nicht für mich. Es ist schon mein siebter Schulwechsel, ich habe also mittlerweile Routine darin. Freunde habe ich daher kaum. Eine unausweichliche Konsequenz, wenn man ständig den Wohnort wechselt. Irgendwann habe ich es einfach aufgegeben, mir welche zu suchen. Mein Aufenthalt ist ohnehin meist nur für eine gewisse Zeit, also sind Freunde irgendwie Zeitverschwendung.

Warum es uns diesmal in diesen provinzlerischen Ort gezogen hat, ist mir ein Rätsel. Mein Dad ist der Ansicht, es wäre an der Zeit, sesshaft zu werden.

Aber ausgerechnet hier?

Hier gibt es nichts, außer ein paar Bäumen hinter unserem Haus. Okay, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ziemlich nah dran. Es gibt eine kleine Einkaufspassage für die nötigsten Dinge im Leben, eine Bibliothek, eine Polizeistation und die örtliche Highschool, aber das war es dann auch schon.

Wirklich, hier herrscht absoluter Totentanz. Es ist so ruhig, dass es fast beängstigend ist. Ich vermisse jetzt schon die Großstadt, dabei sind wir gerade erst vor ein paar Wochen hierhergezogen. Dad hat einen Job an der Universität in der Nachbarstadt angenommen. Er lehrt dort Geschichte sowie Psychologie und irgendwelches Mythenzeugs, was ich total albern finde.

Mal ehrlich, wer glaubt denn bitte an so einen Quatsch?

Und ich? Nun ja, ich werde einfach versuchen, mein letztes Highschooljahr zu überstehen.

__________

 

»Ich wünsche dir einen wundervollen ersten Schultag«, verabschiedet sich mein Dad. Er lässt es sich natürlich nicht nehmen, mich zur Highschool zu fahren und setzt mich direkt vor dem Eingang ab. Was mir einige amüsierte Blicke einbringt.

Danke dafür.

Mit gesenktem Kopf schlängle ich mich zwischen den Schülern hindurch. Mein Weg führt mich direkt zur Anmeldung ins Sekretariat. Hinter einem schweren Schreibtisch sitzt eine Frau mit strengem Dutt und einer runden Brille. Auf einem kleinen Schild steht der Name 'Dickens'. Sie sieht von ihren Unterlagen auf und lächelt mich freundlich an.

»Guten Tag, ich bin Therasia Libra, ich bin neu hier«, stelle ich mich vor. Die Dame nickt wissend, sie hat mich offensichtlich schon erwartet. Hier kommen sicher nicht alle nasenlang neue Schüler an. Was wohl bedeutet, dass ich für die nächsten Tage beäugt werde, als hätte ich zwei Köpfe.

»Hallo Theresa, ich bin Miss Dickens. Ich habe hier deinen Stundenplan und einen Gebäudeplan.«

Ich unterdrückte den Impuls, sie bezüglich meines Namens zu korrigieren und nehme die Papiere dankend entgegen.

Flüchtig werfe ich einen Blick auf den Stundenplan, um zu sehen, welches Fach als erstes ansteht. Mathematik, kann es noch schlimmer kommen?

Ich suche nach dem Klassenzimmer. Als ich es endlich finde, bleibe ich unentschlossen davor stehen. Was bei dem verwinkelten Gebäude gar nicht so einfach ist. Schüler schieben sich an mir vorbei, um pünktlich zum Unterricht zu kommen. Ich atme tief durch und betrete den Raum. Der Lehrer, dessen Name laut Stundenplan Meyers ist, sitzt an seinem Tisch und fordert die Klasse zur Ruhe auf. Was wirklich ein hartes Stück Arbeit zu sein scheint, denn er braucht dafür drei Anläufe.

»Bitte setzen Sie sich, ich würde gerne mit dem Unterricht beginnen.« Die Schüler huschen endlich auf ihre Plätze. Nur ich stehe immer noch etwas unbeholfen im Türrahmen. Unschlüssig darüber, ob ich bleiben oder wieder gehen soll. Ich hasse es, die Neue zu sein. Einige Schüler mustern mich neugierig, andere nehmen mich gar nicht erst wahr.

Mister Meyers entdeckt mich und winkt mich zu sich heran. »Und Sie sind?«, fragt er mit nicht besonders viel Interesse. Ich reiche ihm den Zettel, den ich bei der Anmeldung bekommen habe und stelle mich höflich vor. »Therasia Libra.«

Er nickt und lächelt freundlich. »Okay Theresa, setzen Sie sich doch zu Lydia.«

Wenigstens verlangt er nicht, dass ich mich der ganzen Klasse vorstelle, denn das ist etwas, was ich noch weniger mag als Mathematik. Auch ihn weise ich nicht darauf hin, dass mein Name Therasia ist. Ich bin es gewohnt, dass ihn kaum jemand richtig ausspricht, weshalb ich mich meistens als Tess vorstelle. Ein Mädchen mit langen roten Haaren hebt die Hand und signalisiert mir damit, dass sie wohl Lydia ist. Ich rutsche auf den freien Platz neben ihr.

»Hey, ich bin Lydia«, flüstert sie mir zu. Mister Meyers hat bereits mit seinem Unterricht begonnen.

»Hey, ich bin Tess«, flüstere ich zurück.

Sie schiebt ihr Buch in die Mitte des Tisches, damit ich mit hineinsehen kann. Lydia macht einen netten Eindruck. Vielleicht kann sie mir in der Anfangszeit etwas unter die Arme greifen, um hier klarzukommen.

__________

 

Wir haben gerade einige Aufgaben zum selbständigen Bearbeiten bekommen, als die Tür aufgerissen wird. Mein Kopf schießt nach vorn und mein Herz stolpert kurz in meiner Brust. Neben der Tafel steht ein Typ mit dunklen Haaren und schwarzer Kleidung. So, wie er dort steht, hat er etwas Düsteres und Bedrohliches an sich. Sein Gesicht hingegen ist atemberaubend schön.

Mister Meyers sieht ihn böse an. »Schön, dass Sie es doch noch einrichten konnten, uns mit ihrer Anwesenheit zu beglücken, Mister Williams.« Der Typ murmelt etwas Unverständliches und kommt dann auf uns zu. Ich starre ihn an, was mir wirklich unangenehm ist, aber ich kann meinen Blick einfach nicht von ihm lösen. So sehr ich es auch will. Die Art, wie er sich bewegt, fasziniert mich und lässt meinen Blick förmlich an ihm kleben. Er erinnert mich an einen Jaguar, leichtfüßig, aber bedrohlich und unglaublich schön. Langsam hebt er den Blick und sieht mich direkt an. Ich zucke erschrocken zusammen. Seine Augen sind eisblau und so klar, dass ich das Gefühl habe, hindurchsehen zu können. Meinen erschrockenen Blick quittiert er, indem er fragend eine Augenbraue hebt. Ich schwöre, dass er leicht den Kopf schüttelt, als er an mir vorbei geht und sich auf dem Platz hinter mir niederlässt.

»Kumpel, du bist schon wieder zu spät. Sie schmeißen dich noch aus dem Team,« flüstert der Junge neben ihm. Er antwortet nicht, aber ich nehme an, dass er lediglich mit den Schultern zuckt.

Die Stunde ist für mich gelaufen. Ich kann mich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, denn ich fühle deutlich, wie sich sein Blick in meinen Rücken bohrt. Eisblaue Augen. Seine Augen.

__________

 

Das Läuten der Schulklingel reißt mich aus meiner Schockstarre und erlöst mich aus dieser unangenehmen Situation. Eilig sammle ich meine Utensilien zusammen und rutsche aus der Bankreihe. Ich kann den Zusammenprall spüren, bevor er geschieht. Um Schlimmeres zu verhindern, trete ich einen Schritt zurück, damit der Junge neben mir nicht in mich hineinläuft. Was allerdings dafür sorgt, dass ich mit jemand anderem zusammenpralle, und zwar ungebremst. Mist!

Zwei Hände legen sich sanft auf meine Hüften und schieben mich leicht von sich. Ich drehe mich um, um mich zu entschuldigen, und erstarre augenblicklich. Ein paar Augen, die sich förmlich in meine hineinbohren, verschlagen mir die Sprache. Wir starren einander an und es ist, als würde in diesem Augenblick ein Energiefeld durch mich hindurch schießen. Unsere Blicke verschmelzen zu einem, was sich eigenartig anfühlt. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, starre ich ihn einfach weiter an und bewege mich keinen Zentimeter.

Sag was, Tess! Los, mach schon, damit er dich nicht für völlig bescheuert hält – schreit mein Unterbewusstsein, aber es will einfach nichts über meine Lippen kommen.

Vorsichtig schiebt er mich zur Seite und geht, ohne ein einziges Wort, an mir vorbei. An der Tür dreht er sich ein letztes Mal zu mir um und sieht mich mürrisch an, bevor er endgültig verschwindet.

Was ist das bloß für ein Typ?

»Kommst du?«, fragt Lydia und zieht mich bereits am Arm hinter sich her. »Ähm, ja klar«, antworte ich und folge ihr.

__________

 

Die nächsten Stunden bis zur Mittagspause ziehen sich unendlich in die Länge. Ich bekomme kaum etwas von dem mit, was sich vor mir abspielt. Egal wo ich hinsehe, sehe ich diese eisblauen Augen, die mich zu verschlucken drohen.

Er ist in keinem der darauffolgenden Kurse. Lydia hingegen weicht mir nicht von der Seite. Wir haben so ziemlich den gleichen Stundenplan. Was mir irgendwie gefällt, da ich nicht ganz auf mich allein gestellt bin.

Im Speisesaal herrscht ein reges Treiben und Lydia führt mich an einen Tisch, an dem bereits fünf Leute sitzen und stellt mich der Gruppe kurz vor. Ein Blick auf diesen Haufen verrät mir, dass dies der Außenseiter Tisch ist. Sie sind keine Nerds, aber sicher auch nicht die beliebtesten Schüler hier. Ich setze mich neben Lydia und einen Jungen mit blonden Haaren, der sich als Joe vorstellt. Alle sind in Gespräche vertieft, nur ich nicht, aber ich kann auch nicht wirklich mitreden, da ich keinen der Schüler kenne, von denen sie sprechen. Mit einem Blick suche ich den Raum ab, aber wonach? Plötzlich ist es wieder da, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schaue auf und da sind sie, diese wunderschönen eisblauen Augen, die mich ebenso anstarren wie ich sie.

Er sitzt ganz eindeutig an dem Tisch der Sportler, allerdings sieht er überhaupt nicht aus wie einer. Alle tragen diese albernen Jacken mit dem Schullogo darauf, nur er trägt komplett schwarz. Neben ihm sitzt ein Mädchen mit langen blonden Haaren und versucht offensichtlich, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schiebt sie leicht von sich, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Plötzlich wirkt er irritiert und schaut weg. Als ich das nächste Mal unauffällig zu seinem Tisch rüber schiele, ist er verschwunden.

Was hat er bloß an sich, dass er mich regelrecht in seinen Bann zieht? Normalerweise ist der Bad Boy Typ so gar nicht mein Fall. Ich mag nette, freundliche Jungs, die Mädchen anständig behandeln. Er scheint alles andere als nett zu sein.

Auch in den nächsten Stunden beherrscht er meine Gedanken, sodass ich im Unterricht kaum etwas zustande bringe. Warum kann er nicht einfach aus meinem Kopf verschwinden? Seltsam, noch nie hat mich jemand so aus der Fassung gebracht, dabei weiß ich nicht einmal genau, was ich überhaupt über ihn denke. Es ist eher ein Gefühl, das ich spüre. Eine Art innere Unruhe, die er in mir auslöst. Endlich erlöst mich das Schulklingeln von diesem ersten Schultag, der so ganz anders verlaufen ist, als ich erwartet habe. Ich stopfe meine Sachen in die Tasche und suche so schnell wie möglich das Weite.

Auf dem Parkplatz warte ich, wie abgesprochen, auf meinen Dad, der es sich natürlich auch nicht nehmen lässt, mich am ersten Schultag abzuholen, als wäre ich ein Grundschüler. Zum Glück kommt er wie immer zu spät, was mir die Peinlichkeit erspart, von jemandem gesehen zu werden.

Ich sinke auf einen riesigen Stein und ziehe das Buch, welches wir für den Unterricht lesen sollen, aus meiner Tasche, um mir die Zeit zu vertreiben. Links von mir befindet sich der Sportplatz mit einer riesigen Tribüne. Einige Jungs, die vorhin mit Mister Unbekannt am Tisch saßen, spielen dort ausgelassen Fußball.

Ich beginne zu lesen und bin nach wenigen Seiten völlig darin vertieft. Ein Zischen erregt meine Aufmerksamkeit und ich entdecke den Ball, der unaufhaltsam auf mich zuschießt. Das Buch lasse ich zu Boden fallen, damit ich den Aufprall mit den Händen abwehren kann. Doch bevor der Ball mich trifft, huscht ein Schatten wie aus dem Nichts durch mein Blickfeld. Da die Sonne mich blendet, blinzle ich einige Male und schirme sie schließlich mit der Hand ab, um besser sehen zu können. Unmittelbar vor mir steht eine schwarze Gestalt und hält den Ball fest in seinen Händen.

Diesmal muss er sich nicht umdrehen, um dieses Gefühl in mir zu erwecken. Das Energiefeld scheint ihn ständig zu umgeben, oder bilde ich mir das nur ein?

Mit einem gezielten Schuss befördert er den Ball zurück zum Spielfeld. Als er sich endlich zu mir umdreht und unsere Blicke sich treffen, weiß ich, dass ich etwas gefunden habe. Aber was?

Ich sollte irgendetwas sagen, sonst denkt er am Ende noch, ich bin unhöflich. Aber es ist mir schier unmöglich, in seiner Gegenwart überhaupt einen klaren Gedanken zufassen, geschweige denn, zu sprechen. Später fallen mir sicher tausend Dinge ein, die ich hätte sagen können, aber mehr als ein gestammeltes 'Danke' kommt einfach nicht über meine Lippen. Wieder sieht er mich misstrauisch an. Was an mir macht ihn so misstrauisch? Er kennt mich doch gar nicht. Ich bin wirklich ein netter Mensch.

»Wie heißt du?«, fragt er und seine raue Stimme durchfährt mich mit so einer Heftigkeit, dass ich das Gefühl habe, zu taumeln. Seine eisblauen Augen mustern mich neugierig, seine Gesichtszüge sind nun weicher, fast wirkt er freundlich.

»Tess«, antworte ich. Meinen richtigen Namen würde er sich wahrscheinlich ohnehin nicht merken.

»Also Tess, vielleicht solltest du etwas besser aufpassen. Ich werde nicht immer da sein, um dich zu retten.« Etwas an der Art, wie er es sagt, weckt in mir den Wunsch, dass er genau das tun soll – mich retten. Nur vor was?

Er geht vor mir in die Knie und hebt mein Buch auf, um es mir zu reichen. Ich greife danach und stecke es in meinen Rucksack. Als er mir erneut in die Augen sieht und leicht lächelt, versetzt mich das in Alarmbereitschaft. Würde man sich erstmal in diesen Augen verlieren, würde man unmöglich wieder hinausfinden und er scheint mir nicht die Art Junge zu sein, bei dem das eine gute Idee wäre.

Ich wende den Blick von ihm ab. Bevor ich etwas sagen kann – nicht, dass ich wirklich dazu in der Lage wäre – hupt es. Er sieht ebenfalls zu dem Wagen, in dem mein Dad sitzt und zieht die Augenbrauen zusammen. Sicher wird er allen erzählen, dass ich von meinem Dad mit 17 Jahren noch von der Schule abgeholt werde. Prima! Auch mein Dad sieht zu uns herüber. Er fixiert den Jungen vor mir und wirkt besorgt. Natürlich ist er das, immerhin kniet ein gut aussehender Typ, völlig in schwarz gekleidet, vor seiner Tochter. Ich will gar nicht wissen, was er jetzt denkt. Die Augen von Mister Unbekannt weiten sich, als das Eisblau einem gefährlichen Nebelgrau weicht. Wie ist das möglich, sie waren doch eben noch so klar gewesen? Auch er scheint jetzt etwas besorgt zu sein, allerdings ist mein Dad nicht unbedingt der Typ, vor dem man Angst bekommt. Er ist weder besonders sportlich, noch neigt er zu aggressivem Verhalten. Dad gleicht doch eher einem Teddybären.

Langsam entfernt sich der Junge von mir, bevor er sich schließlich umdreht und schnellen Schrittes davongeht.

Was ist hier gerade passiert? Was ist mir entgangen und warum habe ich plötzlich das Gefühl, ihn beschützen zu müssen? Ich kenne ihn doch gar nicht.

Mein Dad hupt erneut und ich stehe auf, nehme meinen Rucksack und steige in den Wagen.

Ich habe so eine leise Ahnung, dass dieses Schuljahr ganz anders verlaufen wird, als ich erwartet habe

 

Kapitel 2.

 

Kaum sitze ich im Auto, platzt mein Dad auch schon mit der Frage heraus. »Wer war der Junge?« Er klingt ernsthaft besorgt, aber warum? Wir haben schließlich kaum mehr als drei Worte gewechselt.

»Keine Ahnung«, sage ich und sehe aus dem Fenster. Ich werde ganz sicher nicht mit Dad über ihn reden. Warum auch? Es gibt nichts, was ich über diesen Jungen sagen kann.

»Wie war dein Arbeitstag?«, versuche ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und es funktioniert, wie immer.

»Gut und bei dir? Wie gefällt dir die neue Schule?« Ich erzähle ihm von Lydia und den anderen, die heute meinen Weg gekreuzt haben. Dass sie alle sehr nett und hilfsbereit sind. Halt das übliche Geplänkel, das man sagt, um seine Eltern zu besänftigen.

Als wir zu Hause ankommen, verschwindet Dad sofort in seinem Arbeitszimmer. Manchmal frage ich mich, was er die ganze Zeit darin treibt. Stundenlang verschanzt er sich, liest in uralten Büchern und sieht dabei meist enttäuscht aus.

Mein Zimmer liegt in der oberen Etage, direkt neben dem Badezimmer, was morgens durchaus Vorteile hat. Völlig erschöpft und innerlich aufgewühlt, lege ich mich auf mein Bett und starre an die Decke. Wie ich bereits befürchtet habe, wandern meine Gedanken nach einer Weile wieder zu ihm.

Was ist das mit seinen Augen? Wieso wechseln sie die Farbe oder habe ich mir das nur eingebildet? Den ganzen Tag spukt er nun schon in meinem Kopf herum und raubt mir damit den Verstand. So werde ich mich später niemals auf meine Schularbeiten konzentrieren können.

Kurzentschlossen ziehe ich die Laufsachen an. Ich würde einfach eine Runde durch den Wald rennen, um meinen Kopf freizubekommen. Mein Dad hat das einzige Haus gekauft, das keine Nachbarn hat und direkt am Waldrand liegt, daher sind es nur wenige Meter, bis man in den Bäumen verschwinden kann.

In den letzten drei Wochen bin ich jeden Tag dieselbe Runde gelaufen und nie von den Waldwegen abgewichen, aus Angst, mich zu verirren. Ich laufe und laufe. Ständig blitzt sein Gesicht vor mir auf und eisblaue Augen starren mich an. Es ist zum Verrücktwerden. Langsam bekomme ich den Verdacht, dass mir mein Unterbewusstsein etwas mitteilen möchte. Ich will es gar nicht erst wissen, denn es wird mir mit Sicherheit nicht gefallen. Abrupt bleibe ich stehen und sehe mich um.

Mist!

Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und noch viel weniger weiß ich, wie ich hierhergekommen bin. Zielstrebig gehe ich die Böschung hinab, als würde mich etwas in diese Richtung ziehen. Ein Instinkt, eine Ahnung, ein Gefühl, das mir sagt, ich muss genau hier sein, um etwas zu finden. Aber was?

Vor mir erstreckt sich ein kleiner See, gerade groß genug, dass man hindurch schwimmen kann. Das andere Ufer lässt sich in der Ferne deutlich erkennen. 

Es ist völlig leise hier, fast schon beängstigend still. Keine Vögel, die zwitschern. Nicht einmal die Blätter der Bäume rauschen in der leichten Brise, die mich umgibt. Es wirkt fast, als wäre es nicht real oder als hätte jemand den Ton ausgeschaltet. Ich setze mich ins Gras und blicke auf den See hinab. Er funkelt in einem wunderschönen Blautürkis und ist völlig klar. Ich bin mir sicher, man kann den Grund sehen, wenn man darin schwimmt. Einige Minuten sitze ich am Ufer und genieße diesen friedlichen Ort, der etwas Magisches an sich hat. Plötzlich kommt die Wasseroberfläche in Bewegung und wie aus dem Nichts, taucht etwas aus dem Wasser auf. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, es zu erkennen, aber es ist nicht etwas, sondern jemand. Ich halte die Luft an, als er auf der anderen Seite des Sees aus dem Wasser steigt. Plötzlich höre ich es, die Vögel, die Blätter, die alltäglichen Geräusche, als hätte er diese Klänge mitgebracht. Fasziniert betrachte ich die Person am anderen Ufer, sein ganzer Rücken ist mit Tattoos übersät. Schwarze Badehose, schwarze Haare und anmutig wie ein Jaguar. ES ist er.

Verdammt!

Schnell springe ich auf, um mich aus dem Staub zu machen, doch er scheint mich gehört zu haben, was auf diese Entfernung eigentlich unmöglich ist. Er sieht mich direkt an. Wie erstarrt bleibe ich stehen. Der Typ wirkt mindestens genauso erschrocken wie ich. Schnell greift er nach seinem Shirt und zieht es sich über. Ich nutze die Gelegenheit, verschwinde zwischen den Bäumen und renne, so schnell ich kann. Schließlich stehe ich völlig außer Atem vor unserem Haus. Was bitte war das eben im Wald gewesen?

__________

 

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Bus zur Schule. Mehr als eine halbe Stunde habe ich auf meinen Dad eingeredet, damit er mich nicht zur Schule bringt. Irgendwie ist mir mulmig zu Mute, denn auf keinen Fall möchte ich Mister Unbekannt über den Weg laufen.

Bis zur Mittagspause gelingt mir das auch, doch dann steht er nur wenige Meter vor mir in der Schlange. Auf seinem Tablett befindet sich lediglich eine Cola.

Als ich seinen Rücken anstarre, sehe ich ihn wieder vor mir. Dort am anderen Ufer und das fast nackt. Diese Bilder haben mich bis in meine Träume verfolgt.

»Tess, wo starrst du denn hin?«, fragt Lydia und folgt neugierig meinem Blick. »Oh!«, stöhnt sie, als sie ihn entdeckt. Auch er scheint uns bemerkt zu haben, denn er sieht uns plötzlich an. Seine Augen sind nebelgrau, nicht eisblau, so wie ich sie in Erinnerung habe. Und er sieht nicht erfreut aus, mich zu sehen. Schnell schaue ich auf mein Tablett und gehe mit Lydia zu dem Tisch, an dem bereits die anderen sitzen

»Isaac also«, stellt Lydia fest und grinst breit, aber ich weiß überhaupt nicht, wen sie damit meint. Vielleicht will ich es auch einfach nicht wissen. »Wie bitte?«, frage ich, als hätte ich nicht gehört, was sie gesagt hat.

»Du stehst auf ihn«, sagt sie und nickt in seine Richtung. Ich sehe rüber zu dem Tisch, an dem er gestern saß. Er sieht zu uns herüber, sein Blick fest auf mich gerichtet und völlig undurchdringlich. Nichtssagend.

»Nein, tue ich nicht. Ich finde ihn nur irgendwie merkwürdig. Er ist so seltsam«, sage ich und Lydia lacht. »Ja, vielleicht, aber er ist auch unglaublich heiß.« Sie macht offensichtlich keinen Hehl daraus, ihre Gedanken auszusprechen, aber genau das gefällt mir an ihr.

»Er ist nicht mein Typ«, sage ich und sehe noch einmal zu ihm. Er schmunzelt leicht, aber worüber? Isaac unterhält sich mit niemanden, er sieht einfach in meine Richtung.

»Na, wenn das so ist, interessiert es dich sicher auch nicht, dass er keine Freundin hat«, fährt Lydia fort. Das Ende der Mittagspause rettet mich glücklicherweise aus diesem Gespräch, das mir mehr als unangenehm ist. Lydia muss zu Biologie und ich bahne mir meinen Weg zu Chemie.

Isaac heißt er also. Das passt irgendwie zu seiner düsteren Gestalt. Außer Mathematik haben er und ich keinen Kurs zusammen. Bis jetzt, denn da sitzt er in all seiner Pracht und sieht mich wieder einmal mürrisch an. Ich suche nach einem freien Platz und entdecke Joe, neben dem tatsächlich noch niemand sitzt. Der einzige weitere unbesetzte Platz ist der neben Isaac. Doch ich werde einen Teufel tun und mich zu ihm setzen. So wie er mich ansieht, hat er auch kein Interesse daran.

__________

 

Allerdings wäre der Stuhl neben Isaac wohl doch die bessere Wahl gewesen, denn Joe erweist sich als regelrechte Plappertasche, sodass ich kaum etwas vom Unterricht mitbekomme.

»Und, kommst du zur Party?«, fragt Joe.

»Welche Party?« Joe sieht mich an, als würde ich vom Mond kommen.

»Na zur Saison-Auftakt-Party unseres Fußballteams«, klärt er mich über das bevorstehende Event auf. Partys sind im Allgemeinen eher nicht mein Ding, aber mich lädt eigentlich auch nie jemand dazu ein. Isaac wirft mir einen fragenden Blick zu. Kann er uns etwa hören? Schnell schüttle ich diesen Gedanken wieder ab, schließlich sitzt er vier Reihen vor uns.

»Ich denke eher nicht«, antworte ich Joe, der nun einen Schmollmund zieht. »Tess, du musst kommen. Alle werden da sein. Es ist Tradition.«

Was soll ich da noch sagen? Sieht ganz so aus, als würde ich auf eine Party gehen müssen. »Also gut«, gebe ich nach.

Joe beginnt, seine Sachen zusammenzupacken und springt mit dem Klingeln von seinem Platz auf. »Ich muss los, Lydia wartet auf mich. Man sieht sich«, verabschiedet er sich und stürmt davon. Kurz winke ich ihm nach und packe ebenfalls meine Sachen zusammen.

Auf dem Gang albern ein paar Jungs aus dem Fußballteam herum. Einige davon erkenne ich wieder, sie haben mit Isaac am Tisch gesessen.

Ich will gerade die Treppe heruntergehen, als einer von ihnen mich anrempelt, um einem anderen Jungen auszuweichen, der wie ein Rammbock auf ihn zu rennt. Ich gerate ins Straucheln und wie in Zeitlupe sehe ich die Treppenstufen immer näher auf mich zu kommen. Das wird weh tun – denke ich und stelle mich auf den bevorstehenden Schmerz ein. Wie aus dem Nichts greift jemand nach mir. Instinktiv drehe ich mich um und greife ebenfalls nach der Person, um Halt zu finden, woraufhin auch er ins Straucheln gerät und wir gemeinsam die Treppe herunterstürzen. Wie in einem Ball, der mich schützend umgibt, spüre ich nichts. Keinen Schmerz, kein Rumpeln, einfach nichts. Die Geräusche verschwimmen und in meinem Kopf rauscht es monoton vor sich hin. Als wir schließlich am unteren Ende der Treppe zum Erliegen kommen, empfinde ich nach wie vor keinerlei Schmerz, als wäre das alles gerade nicht passiert. Verhindert das Adrenalin, dass ich etwas fühle?

Mein Kopf wird an eine harte Brust gedrückt, eine Hand umklammert meine Hüfte. Sein Herz hämmert wie wild gegen meine Schläfe, als würde es jeden Moment zerspringen. Wer auch immer da unter mir liegt, riecht unverschämt gut. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und sehe direkt in Isaacs Gesicht. Natürlich, wer auch sonst! Ist das eine Art Fluch? Wie kann er andauernd, wie aus dem Nichts auftauchen, um mich zu retten?

»Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?«, fragt er mit sanfter Stimme. Ich nehme nichts um uns herum wahr, in diesem Augenblick gibt es nur ihn und mich im ganzen Universum. Dieses Energiefeld, welches von ihm ausgeht, umschließt nun uns beide, wie in einem schützenden Kokon.

»Tess?«, bohrt er nach und steht auf, indem er mich mit hochhebt, als würde ich nicht mehr wie eine Feder wiegen. Ich spüre, wie sich seine Muskeln um mich herum anspannen, als er mich behutsam wieder auf die Füße stellt.

»Ja, ich denke schon« antworte ich. Isaac senkt den Blick und sieht auf meine Hände, die auf seiner Brust ruhen. Sein Mund verzieht sich zu einem leichten Grinsen.

Oh Gott, wie schön sein Mund ist.

Ich unterdrücke den Impuls, mit den Fingerspitzen die Form seiner Lippen nachzeichnen zu wollen. Wo kommt denn dieser Gedanke auf einmal her? Isaac starrt mich plötzlich verwirrt an. Weiß er, was ich gerade gedacht habe? Seine nebelgrauen Augen haben etwas Bedrohliches an sich. Wohin ist das Eisblau verschwunden? Ich bin mir sicher, dass ich mir das nicht eingebildet habe.

»Wie machst du das mit deinen Augen?«, rutscht es aus mir heraus.

Isaacs Finger bohren sich fast schmerzhaft in meine Hüften. »Was meinst du?«, fragt er, als wüsste er nicht, wovon ich spreche.

»Sie sind grau«, sage ich und er sieht mich überrascht an. Er schließt die Augen, lässt mich los, tritt einen Schritt von mir zurück und wendet sich zum Gehen. Er sieht einen kurzen Augenblick über die Schulter und ich halte seinem Blick stand. Seine Augen sind wieder eisblau und er will, dass ich das weiß. Wie zur Hölle ist das möglich? Ohne mir eine Antwort zu geben, geht er davon.

»Isaac, Kumpel, alles okay? Ich habe euch nicht gesehen«, ruft ein Junge, vermutlich der Unfallverursacher, und läuft Isaac nach. »Verpiss dich, Louis«, zischt er.

Der Junge bleibt wie angewurzelt stehen und sieht nun zu mir. »Hey du, alles okay?«, spricht er mich an.

»Ja, alles bestens.«

Er kommt mit schnellen Schritten auf mich zu und lächelt schief. »Hi, ich bin Louis und du? Du bist neu hier, oder?« Er ist echt ein hübscher Kerl, mit etwas zu viel Selbstbewusstsein und der zu Leichtsinn neigt, das ist mehr als offensichtlich. Auch er hat eine gewisse Präsenz, wie Isaac, aber was bei ihm Kraft ausstrahlt, wirkt bei Louis wie pure Arroganz.

»Ich bin Tess«, stelle ich mich vor. Mein Fluchtinstinkt meldet sich und ich sollte hier schleunigst abhauen. Irgendwas stimmt mit dem Kerl nicht.

»Tess, hübscher Name, passt zu dir.« Oh bitte nicht so ein Geschleime. Ich schiebe mich an ihm vorbei, um die Flucht zu ergreifen.

»Ja, also, ich muss los«, verabschiede ich mich mehr oder weniger und laufe den Flur entlang.

»Wir sehen uns auf der Party. Ich gebE dir als Wiedergutmachung einen Drink aus«, ruft er mir nach. Ich frage mich, wie er mir bei einer kostenlosen Veranstaltung etwas ausgeben möchte? Aber es ist auch egal, ich würde mir von ihm niemals etwas ausgeben lassen.

__________

 

Ich verlasse das Schulgebäude und sehe mich um. An der Bushaltestelle steht niemand mehr, was wohl heißt, dass der Bus bereits weg ist.

Super, jetzt muss ich die vier Kilometer nach Hause laufen oder meinen Dad anrufen und ihn bitten, mich abzuholen. Ich wühle gerade in meiner Tasche nach dem Handy, als das Aufheulen eines Motors mich fast zu Tode erschreckt. Mein Kopf schnellt herum. Isaac sitzt auf einem Motorrad und kommt genau neben mir zum Stehen. Ohne ein Wort hält er mir einen Helm hin, er selbst trägt keinen, also ist es wohl seiner. Fragend sehe ich ihn an. Möchte er etwa, dass ich mit ihm fahre? Will er mich tatsächlich nach Hause bringen? Woher weiß er, dass ich meinen Bus verpasst habe? Okay, ich stehe an der Bushaltestelle, da muss man kein Genie sein, aber ich könnte trotzdem auf jemanden warten.

»Komm!«, fordert er mich auf. Wie von selbst greife ich nach dem Helm und rutsche hinter ihn auf den Sitz. Locker lege ich meine Arme um seine Hüften, um etwas Abstand zwischen uns zu lassen. Isaac umfasst meine Hände und zieht mich näher an sich heran. Mein Herz beginnt heftig zu schlagen, als ich seine festen Muskeln unter meinen Händen spüre. Noch nie habe ich auf so einem Teil gesessen, aber ich verspüre keine Angst.

Im nächsten Moment fädelt Isaac sich in den Verkehr ein und rauscht davon. Er hat mich gar nicht gefragt, wo ich wohne. Ich hoffe wirklich, dass er mich tatsächlich nach Hause bringt und mich nicht irgendwo am Straßenrand aussetzt. Isaac vermittelt schließlich nicht gerade den Eindruck, als wäre er ein großer Fan von mir

 

Kapitel 3.

 

Zum Glück hält er nicht unmittelbar vor meiner Tür. Mein Dad würde sicher einen Tobsuchtsanfall bekommen. Gut zweihundert Meter werde ich noch laufen müssen. Sicher will er meinem Dad nicht begegnen, was ich wirklich verstehe, nachdem er ihn so angesehen hat. Auch ich habe keine Lust, etwas erklären zu müssen. Mit wackeligen Beinen klettere ich von der Maschine und frage mich, woher er überhaupt weiß, wo ich wohne. Isaac weiß offensichtlich so einiges und ich hadere noch mit mir, ob mich diese Tatsache ängstigt oder fasziniert. Unschlüssig darüber, ob ich noch etwas sagen soll und vor allem was, reiche ich ihm seinen Helm.

»Woher weißt du, wo ich wohne?«, platzt es aus mir heraus.

»Die Stadt ist klein, da bekommt man so allerhand mit«, antwortet er kühl.

»Danke fürs nach Hause bringen«, sage ich schließlich. Was sollte ich auch sonst noch zu ihm sagen? Seine Miene ist ausdruckslos und er wirkt nicht gerade interessiert an einem Gespräch mit mir. Ich werde einfach nicht schlau aus Isaac. Warum tut er all die Dinge, wenn er mich doch ganz offensichtlich nicht ausstehen kann? Ohne ein weiteres Wort setzt er den Helm auf und fährt davon. Ich sehe ihm nach, bis er um die nächste Ecke biegt.

Ein seltsamer Kerl. Und doch ist er irgendwie unglaublich anziehend.

__________

 

Dad steht in der Eingangstür und sieht mich verärgert an. Was habe ich eigentlich verbrochen, dass mich jeder mit diesem Blick straft?

»War das dieser Junge von gestern?«, fragt er, ohne mich überhaupt zu begrüßen. Seufzend schiebe ich mich an ihm vorbei. »Habe ich nicht gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten!«, erinnert er mich und folgt mir in die Küche.

Ich nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und sehe ihn an. »Ich habe den Bus verpasst und er war so nett, mich nach Hause zu bringen.« 

»Du hättest mich anrufen können. Ich hätte dich abgeholt.«

Ich liebe meinen Dad, aber manchmal geht er mir ziemlich auf die Nerven. »Dad, ich bin kein Kind mehr, ich kann schon selbst auf mich aufpassen«, blaffe ich ihn an.

»Diesen Eindruck habe ich nicht, sonst würdest du dich nicht auf sein Motorrad schwingen.«

Was hat er eigentlich für ein Problem? Er kennt ihn doch gar nicht. Aber um ehrlich zu sein, tue ich das auch nicht wirklich. Er wirkt so bedrohlich und trotzdem bin ich davon überzeugt, dass er auch eine sanfte Seite hat, sonst hätte er mich einfach an der Bushaltestelle stehen lassen. Entschlossen, mir das nicht weiter anzuhören, verlasse ich die Küche.

»Tess, ich rede mit dir«, höre ich ihn hinter mir rufen, ignoriere es aber. Seit dem Tod von Mum ist unser Verhältnis hin und wieder schwierig. Was nicht unbedingt an ihm liegt, sondern viel mehr an mir. Ständig packen wir unsere Sachen und ziehen um. Natürlich immer nur zu meinem Besten, aber wie kann es für mich zum Besten sein, wenn ich einsam bin. Meistens stört mich das nicht, aber jetzt gerade vermisse ich meine Mum und hasse es, keine Freunde zu haben.

Mein Dad wird sich wieder beruhigen, das tut er immer. Spätestens in einer Stunde klopft er an meine Tür, um sich zu entschuldigen, ich tue es ebenfalls und ich werde ihm sagen, dass ich ihn liebe. So funktioniert das bei uns.

__________

 

Es ist dunkel, ich renne durch den Wald und suche nach etwas, aber ich kann es einfach nicht finden. Auch weiß ich nicht, wonach genau ich überhaupt suche. Abrupt bleibe ich an einer Klippe stehen und sehe direkt in nebelgraue Augen, die von purer Finsternis umgeben sind. Etwas greift nach mir und zieht mich mit in die Tiefe.

Bevor ich im völligen Dunkel versinke, wache ich schweißgebadet auf. So schlecht habe ich lange nicht geträumt. Etwas orientierungslos sehe ich mich in meinem Zimmer um, bevor ich aufstehe und unter die kühle Dusche springe. Ich packe meine Schulsachen zusammen, verzichte auf das Frühstück und haste zum Bus. Auf dem Schulhof entdecke ich Lydia, die mich zu sich winkt, also marschiere ich zu der Gruppe, die wohl sowas wie meine neuen Freunde auf Zeit sind.

»Hey Tess, was hast du jetzt?« Ich krame in meinem Kopf nach dem Stundenplan, den ich versucht habe, auswendig zu lernen. »Sport«, antworte ich. Lydia klatscht begeistert in die Hände. »Ich auch.« Sie hakt sich bei mir unter und zieht mich in Richtung Sporthalle.

Wir ziehen Top, Shorts und Turnschuhe an, bevor wir die Halle betreten, um uns in einer Reihe aufzustellen.

»Weißt du, was das Gute am Sportunterricht ist?«, flüstert Lydia mir zu.

»Nein, aber ich nehme an, du wirst es mir gleich verraten«, antworte ich ebenfalls im Flüsterton.

»Unsere Sportstunde ist immer parallel zum Konditionstraining vom Fußballteam«, sagt sie und grinst mich an, allerdings habe ich keine Ahnung, was genau sie damit sagen will.

Als eine ganze Truppe gut gebauter Jungs zur Tür hereinkommt, weiß ich, was sie meint. Während die Jungs Gewichte stemmen, oder Seil springen, müssen wir Mädchen Federball spielen. Mal ehrlich, Federball? Es gibt tausend Sportarten und wir spielen Federball? Ich habe Lydia als Spielpartnerin, was es völlig unmöglich macht, etwas zustande zu bekommen, da ihr Blick ständig bei den Jungs auf der anderen Seite der Halle klebt. Ich glaube nicht, dass Lydia unsportlich ist, aber ich kann mir vorstellen, dass ihre Noten nicht berauschend sind, weil sie sich viel zu sehr ablenken lässt. Selbst als wir uns umziehen, schwärmt Lydia immer noch. Ich höre ihr kaum noch zu. Es sind doch nur ein paar Jungs, was ist schon so besonders an ihnen?

Gemeinsam treten wir aus der Turnhalle, um zur nächsten Stunde zu gehen. Von Weitem kann ich das Aufheulen eines Motors hören. Ein Motorrad biegt auf das Schulgelände und hält genau vor dem Gebäude. Ich erkenne sofort, dass es Isaac ist und mein Puls beginnt auf eine unangenehme Art zu rasen. Wie paralysiert starre ich in seine Richtung.

»Schade, dass er immer den Sportunterricht schwänzt. Ihm würde ich wirklich gern mal beim Krafttraining zusehen«, schmachtet Lydia neben mir. Bekommt er denn keinen Ärger, wenn er ständig die Schule schwänzt? Lässig steigt er vom Motorrad ab, wieder trägt er komplett schwarz, das ist dann wohl seine Marotte. Er hängt den Helm an den Lenker und fährt sich mit einer Hand durch die dunklen Haare. Jede seiner Bewegungen strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Einige der Jungs gehen auf ihn zu, aber alle halten einen gewissen Abstand. Wie macht er es nur, dass er so eine Präsenz besitzt?

Plötzlich dreht er seinen Kopf in unsere Richtung. Er sieht mich mit einer Mischung aus Neugier und Ignoranz an. Kurz zieht er die Augenbrauen zusammen, bevor er seinen Blick von mir löst und in der Menge verschwindet. Als Nächstes steht Chemie auf dem Plan. Mir ist mulmig. Wie soll ich mich ihm gegenüber nur verhalten? Er hat mich zwar nach Hause gebracht, aber heißt das jetzt, wir sind so etwas wie Freunde? Nach seinen Blicken auf dem Schulhof zu urteilen, stehen die Zeichen nicht gerade auf Freundschaft. Viel mehr befürchte ich, dass er mich dem Erdboden gleich macht, sobald ich ihm zu nahe komme.

__________

 

Das ist heute echt nicht mein Tag. Der Stuhl neben Joe ist bereits besetzt. Es gibt nur noch einen freien Platz und das ist der neben Isaac. Mit gesenktem Kopf setze ich mich und lege meine Sachen für die Stunde bereit. Er ist zum Glück noch nicht da. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich bin mir nicht sicher, ob es Aufregung oder pure Angst ist. Als er den Raum betritt, schaue ich sofort auf, kurz wirkt er überrascht, aber dann ist da wieder dieser zornige Ausdruck in seinem Gesicht. Einen Moment lang bleibt er vor einem Tisch stehen, an dem zwei Jungs aus dem Fußballteam sitzen. Er spricht mit ihnen, kurz darauf packt einer von ihnen seine Sachen und macht den Platz frei.

Wow, das ist eine eindeutige Ansage. Was hat er nur für ein Problem mit mir?

Der Junge, der soeben den Platz frei gemacht hat, setzt sich nun neben mich. Resigniert senke ich den Kopf. Ich fühle mich wirklich mies, dabei kann es mir doch egal sein, ob er mich mag oder nicht.

Nach der Stunde erklärt mir Joe, sein Sitznachbar ist krank gewesen. Was für mich wiederum bedeutet, dass mir nur der Platz neben Isaac oder dem Jungen bleibt, mit dem er getauscht hat.

Oh Mann. Meine Stimmung ist wirklich auf dem Nullpunkt, als wir zur Mittagspause gehen. Und der Appetit ist mir auch vergangen. Ich rutsche auf den Stuhl neben Lydia, die bereits wie ein Wasserfall auf Joe einredet. Gedankenverloren starre ich vor mich hin, als ich merke, in welche Richtung ich starre, ist es bereits zu spät. Mein Blick klebt regelrecht an Isaacs Tisch und er hat es soeben bemerkt. Fragend sieht er mich an. Erschrocken zucke ich zusammen und sehe schnell weg. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken, weil ich ihn so offensichtlich angestarrt habe. Das ist wirklich nicht mein Tag.

Nach dem Unterricht beeile ich mich, um nicht wieder den Bus zu verpassen. Glücklicherweise bleiben mir Attacken jeglicher Art erspart, sodass Isaac mich nicht retten muss. Sein Motorrad steht noch auf dem Schulhof, als ich in den Bus steige. Zuhause werfe ich meinen Rucksack in die Ecke und beschließe, die Wut in mir durch Laufen in den Griff zu bekommen. Dabei weiß ich nicht einmal, worauf genau ich wütend bin, auf ihn oder auf mich selbst.

Seit einer halben Stunde laufe ich durch den Wald und sofort kommt mir mein Traum in den Sinn. Ich fühle mich getrieben wie ein Tier auf der Flucht. Völlig außer Atem halte ich an, meine Lunge brennt und die Muskeln schmerzen. Ich lasse mich auf dem Waldboden nieder und weine. Dieses Provinzkaff ist die reinste Hölle.

Als ich mich wieder einigermaßen gefangen habe, trete ich den Heimweg an. Wenn ich mich beeile, werde ich vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein und habe einen weiteren Tag geschafft.

__________

 

Wieder habe ich diesen Traum gehabt. Ich bin völlig erledigt, als der Wecker klingelt und mich zum Aufstehen zwingt. Gefühlt hänge ich in einer Endlosschleife, aus der es kein Entkommen gibt. Als ich aus dem Bus steige, laufe ich direkt auf das Schulgebäude zu. Lydia ruft nach mir, aber ich ignoriere sie und gehe hinein, ohne mich umzusehen. Zum Glück steht heute weder Mathematik noch Chemie auf dem Plan, also sind meine Chancen ganz gut, dass ich Isaac nicht sehen muss. Die Mittagspause werde ich einfach auf dem Schulhof verbringen. Lydia kommt gerade noch rechtzeitig zum Unterricht und lässt sich auf den Platz neben mir plumpsen.

»Hey, was ist denn los mit dir?«, fragt sie. »Nichts, was soll denn sein?«, antworte ich ihr.

»Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« Lydia klingt etwas beleidigt.

»Ich habe euch nicht gesehen«, behaupte ich und starre zur Tafel, wo die Geschichtslehrerin gerade die wichtigsten Daten des 2. Weltkrieges anschreibt. Lydia ist es offensichtlich Leid, sich meine Ausreden anzuhören, und schweigt für den Rest der Stunde. Am Ende packt sie ihre Sachen zusammen und verlässt ohne mich den Raum.

Na toll, das habe ich ja super hinbekommen. Schnell laufe ich ihr nach. »Lydia warte!«, rufe ich und werde im nächsten Moment unsanft gebremst. Irgendjemanden habe ich über den Haufen gerannt. Ein vertrauter Duft steigt mir in die Nase, ich schlage ihm auf die Brust und fluche. »Verdammt, kannst du nicht aufpassen!«

Vorsichtig schiebt Isaac mich von sich und hält mich an den Schultern fest. »Du schon wieder«, sagt er und sieht mich mürrisch an.

Mir platzt endgültig der Kragen. »Was zur Hölle ist eigentlich dein Problem?«, fauche ich.

Er zuckt kurz zusammen, fängt sich aber sofort wieder. »Wenn mich nicht alles täuscht, hast du gerade auf mich eingeschlagen«, antwortet er.

Ich habe tatsächlich auf ihn eingeschlagen, beschämt sehe ich zu Boden. »Was habe ich dir getan, dass du mich so hasst?«, spreche ich die Frage aus, die mir auf der Seele brennt.

»Ich hasse dich nicht, Tess.«

Ich hebe den Blick, seine eisblauen Augen durchbohren mich regelrecht. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als Lydia meinen Namen ruft. Isaac lässt mich los und sucht das Weite. Er hasst mich nicht, ist das Einzige, was mir durch den Kopf schießt.

»Oh Mann, ich sollte auch einfach mal in ihn hineinrennen, dann würde er vielleicht bemerken, dass ich existiere«, seufzt sie.

Ich verstehe nicht, was sie an ihm so toll findet. Er ist mürrisch, unnahbar und irgendwie chronisch schlecht gelaunt. Nicht gerade ein Märchenprinz, wenn man es genau betrachtet. Eigentlich sollte es mir egal sein, ob er mich hasst oder nicht. Warum ist es das also nicht?

»Tut mir leid Lydia, das ist heute einfach nicht mein Tag«, entschuldige ich mich. Sie lächelt und ist schlagartig wieder die Alte. »Schon vergessen. Lass uns gehen, wir kommen sonst zu spät zu Englisch.« Ich bin froh, dass sie nicht mehr böse auf mich ist, schließlich ist sie meine einzige Freundin.

Es gelingt mir, sie zu überreden, mit mir die Mittagspause draußen zu verbringen. Dass im Augenblick die Sonne scheint, ist durchaus hilfreich.

Den Rest des Tages beschäftigt mich nur ein Gedanke – Isaac hasst mich nicht. Ich erwarte ja gar nicht, dass wir Freunde werden, ich wäre schon zufrieden, wenn er mich nicht mehr mit diesem Blick ansieht.

Als ich nach Hause komme, steht die Tür zum Arbeitszimmer offen. Mein Dad sieht aus dem Fenster und telefoniert. Da ich ihn nicht stören möchte, schleiche ich daran vorbei.

»Können wir nicht irgendetwas tun, um das zu verhindern?... Dann werde ich mit ihr von hier fortgehen«, sagt mein Dad und klingt ernsthaft besorgt. Mit wem spricht er da? Was hat das zu bedeuten? Will er wirklich schon wieder umziehen?

Schnell husche ich in mein Zimmer, damit er mich nicht beim Lauschen bemerkt. Sollten wir wirklich wieder einmal unsere Sachen packen, wäre ich dann traurig? Mir gefällt dieser Ort nicht, allerdings mag ich Lydia und dann ist da noch Isaac. Er hasst mich nicht und plötzlich weiß ich es – ich will hier nicht weg. Jedenfalls noch nicht.